Männlichkeit und moderner Antisemitismus
böhlau

Rezension: Männlichkeit und moderner Antisemitismus

Die Verknüpfung von Geschlecht und Antisemitismus ist ein weitestgehend unterbelichtetes Thema. Die meisten Betrachtungen zu dem Thema fokussieren sich auf die Zeit des Nationalsozialismus. Der Historiker Dr. Kristoff Kerl, aktuell Postdoctoral Fellow, Zvi Yavetz School of Historical Studies an der Tel Aviv University, hat sich in seiner Dissertation Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er bis 1920er dankenswerterweise  mit dieser Thematik jenseits des Nationalsozialismus beschäftigt. In seiner Monographie untersucht Kerl die Verknüpfung von modernen Antisemitismus und Männlichkeit anhand des Lynchmordes an dem jüdischen Fabrikleiter Leo Frank im Jahr 1915. Dieser Lynchmord gilt als bekanntestes Beispiel antisemitischer Gewalt in der Geschichte der USA. Auch wenn der untersuchte Fall mehr als 100 Jahre zurückliegt, ist die sehr lesenswerte Studie von Dr. Kristoff Kerl in vielen Aspekten erschreckend aktuell.

 

Von Jan Riebe

 

In der Nacht vom 16. auf den 17. August 1915 entführte eine Gruppe angloamerikanischer Männer, die sich „The Knights of Mary Phagan“ nannte, den jüdischen Fabrikleiter Leo Frank aus einem Gefängnis in Milledgeville, Georgia, und lynchte ihn wenige Stunden später. Der Mord bildete den brutalen Endpunkt des Leo Frank Case, der über zwei Jahre zuvor mit der Ermordung Mary Phagans, einer jungen Arbeiterin in einer von Leo Frank geleiteten Fabrik, seinen Anfang genommen hatte. Eine Besonderheit diese Falls ist, dass in Hochzeiten des Rassismus in den USA ein Afro-Amerikaner Hauptzeuge der Anklage war. Daher schreibt auch Kerl: „Damit war der Leo Frank Case der erste Mordprozess seit dem Civil War, in dem ein von zumindest Teilen zeitgenössischer Angloamerikanner_innen als weiß kategorisierter Mensch auf Grund einer Aussage  einer/s Afroamerikaner_in verurteilt wurde“.

Der Leo-Frank-Case ist durchaus als Beschleuniger gesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen. Als Resultat des Antisemitismus im Vorfeld und rund um den Prozess gründete sich die noch heute sehr aktive jüdische Organisation „Anti-Defarmation-League“ mit dem Ziel: „To stop the defarmation oft he Jewish people and to secure justice and fair treatment to all“. Jedoch bereitete der Leo-Frank-Case und der im Vorfeld und Zuge dessen stark angestiegene Antisemitismus der Neugründung des Ku-Klux-Klan den Boden, der ersten Organisation mit einer kohärenten, dezidiert antisemitischen Programmatik, wie Kerl zutreffend anmerkt.

Kristoff Kerl untersucht in seiner Dissertation insbesondere die Vorgeschichte dieses antisemitischen Lynchmordes. Anhand der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche in den USA von 1860 bis 1920 untersucht Kerl wie diese Umbrüche eine Aktualisierung vorhandenen antisemitischen Gedankengutes bewirkt haben und warum diese Veränderungen zudem vielfach als Angriff auf die bestehende hegemoniale Geschlechterordnung verstanden wurden. Der Lynchmord selber steht nicht unmittelbar im Fokus der Untersuchung, sondern stellt eine dramatische Folge der untersuchten gesellschaftlichen Veränderungen dar.

Oftmals wird in Auseinandersetzungen mit Antisemitismus lediglich erwähnt, dass Juden als ´Drahtzieher` hinter gesellschaftlichen Umbrüchen, wirtschaftlichen Veränderungen verortet würden. Kerl hingegen zeichnet sehr detailliert wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen nach und wie diese sowohl Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit auslösten oder bestärkten, als auch wie damit verknüpfte und parallel verlaufende antisemitische Erklärungsmuster und Dynamiken einhergehen. In dieser Herleitung liegt eine große Stärke der Studie.

Die Konstruktion von Geschlecht unterscheidet sich in Teilen sehr wesentlich im Rassismus und Antisemitismus. Und dass nicht erst seit dem Nationalsozialismus, wie auch die vorliegende Studie aufzeigt. Während im Rassismus nicht-weiße Männer u.a. als sehr potent konstruiert werden, werden ´jüdische Männer` im Antisemitismus sehr gegensätzlich dargestellt – nämlich als verweiblicht, pervers,  ungezügelt und vielfach wenig potent.  Diese Verflechtung unterschiedlicher Geschlechterkonstruktionen im Rassismus und Antisemitismus lässt sich auch im beschriebenen Prozess festmachen. So stellt Kerl dar, wie im Prozess die vermeintliche Vergewaltigung Phagans vor ihrer Ermordung als wesentlicher Beweis gewertet wurde, dass der ebenfalls in Verdacht geratene Conley als Afro-Amerikaner schwerlich der Täter sein könne. Die divergierenden Konstruktionen von Männlichkeit und Sexualität im Rassismus und Antisemitismus führten dazu, dass „Details wie die Nichtauffindbarkeit von Sperma am Körper der Leiche zu unwiderlegbaren Beweisen für die Unschuld Conleys beziehungsweise die Schuld Franks“ ausgelegt wurden.

Kristoff Kerl stellt an Anfang seiner Studie drei zentrale Stränge dar, die seiner Ansicht nach dazu dienten, die im Leo Frank Case wirkungsmächtige antisemitische Weltsicht zu entwerfen. Als erster Strang wird unter Verweis auf die Ermordung von Mary Phagan im Verlauf der Affäre Lohnarbeit als gefährlich für angloamerikanische Frauen dargestellt. Mit dieser als gefährlich stilisierten sozioökonomischen Transformation geht eine Verschiebung innerhalb des Geschlechterverhältnisses einher für die Juden verantwortlich gemacht werden. Kerl untersucht und beschreibt, wie der Kampf gegen Juden als Strategie zur Überwindung der Krisenwahrnehmung angloamerikanischer  Männlichkeiten und zur Wiederherstellung der gewünschten, ursprünglichen Geschlechterverhältnisse mit der dominanten Position angloamerikanischer Männer diente.

Als zweiter Strang führt Kerl die Konstruktion von Juden als fundamentale Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung der USA an. Juden wurden der Verschwörung gegen das republikanische System verdächtigt. Da das Konzept der angloamerikanischen Männlichkeit eng verknüpft mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft war, wurde dies auch als weiterer Angriff auf die dominante gesellschaftliche Stellung angloamerikanische Männlichkeit gesehen.

Als dritten Strang macht Kerl die Sicht aus, die Juden als fundamentale Gefahr für die Gesellschaft der Südstaaten konstruierte. In der  Figur der Jew Carbetbagger wurden sie als „treibender Motor der Urbanisierung und Industriealisierung sowie der erneuten Unterwerfung des Südens unter den Norden verstanden“.

Diese am Anfang eingeführten drei Stränge werden im Verlauf der Arbeit detailliert mit Blick auf ihre Entwicklung und Wirkungsmächtigkeit untersucht und dargestellt. Hierbei stellt Kerl immer wieder die Verknüpfungen zwischen empfundener bedrohter angloamerikanischer Männlichkeit und antisemitischer Sicht auf die Veränderungen anschaulich dar. Im Schlusskapitel wird die Bedeutung des Leo Frank Case für die Neugründung des Ku-Klux-Klans und ihre antisemitische Ausrichtung ausführlich dargestellt. Auch hier wird die Bedeutung der Krisenwahrnehmung angloamerikanisch-protestantischer Männlichkeit im Ku-Klux-Klan herausgearbeitet.

Diese Verbindung einer entstehenden antisemitischen Weltsicht in Verknüpfung mit einer empfundenen Bedrohung angloamerikanischer Männlichkeiten macht die Studie so lesenswert und aktuell. Beim Lesen der Studie findet man regelmäßig sehr aktuell wirkende Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen, nicht nur in den USA unter Trump, sondern auch in Europa und Deutschland. Aktuelle Debatten zu „Genderwahn“, „entmannten Männern, die nicht mehr in der Lage seien deutsche Frauen und Vaterland zu schützen“, die oftmals mit antisemitischen Erklärungsmustern daherkommen, wirken nach Lektüre des Buches gar nicht mehr so neu. Auch die Verweise in der Studie, dass Juden als Akteur_innen hinter Afroamerikanner_innen stünden, um diese zu Widerstand gegen die White Supremacy zu ermutigen, findet sich in aktuellen rechten Diskursen fast wortwörtlich wider. So werden in rechten Diskursen häufig Migrationsbewegungen nach Europa als von Juden gesteuert erklärt, dessen Ziel es sei das „widerständige, weiße Europa zu zerstören“. Diese Verschwörungsvorstellungen gipfeln heutzutage in den Aussagen über eine geplante „Umvolkung“. Solche Anknüpfungspunkte gibt es zahlreiche in der Studie, die einem immer wieder die lange antisemitische Traditionslinie vieler als neu daherkommender Positionen sehr anschaulich vor Augen führt. Nicht nur wegen dieser erschreckenden Aktualität, sondern auch weil Kristoff Kerl die Verwobenheit von Geschlecht und Antisemitismus jenseits des Nationalsozialismus sehr überzeugend untersucht, ist die Studie sehr zur Lektüre zu empfehlen.

Am 14.12.2017 wird Dr. Kristoff Kerl seine Studie in der Amadeu Antonio Stiftung vorstellen. Aufgrund des begrenzten Platzkontingentes ist eine Anmeldung unter info@amadeu-antonio-stiftung.de notwendig. Das Facebook-Event zur Veranstaltung ist hierzu finden

Kristoff Kerl, Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre. Köln et al.: Böhlau Verlag 2017

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