Für Sie gelesen: Die Materialsammlung "Mehrheit, Macht, Geschichte"

Thomas Heppener stellt die Materialsammlung „Mehrheit, Macht, Geschichte - 7 Biografien zwischen Verfolgung, Diskriminierung und Selbstbehauptung“ vor. Der Autor ist Geschäftsführer des Anne Frank Zentrums, Berlin.

Eine zehnte Klasse in Berlin-Neukölln: Von den 30 Jugendlichen haben bis auf drei alle einen „Migrationshintergrund“ wie es Neu-Deutsch heißt. Sie sind zumeist in Berlin geboren, besitzen einen deutschen Pass und sprechen fließend Deutsch, aber Eltern oder Großeltern sind aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert. Diese Klassenzusammensetzung ist in einer deutschen Großstadt nicht ungewöhnlich: Ungefähr ein Viertel aller Jugendlichen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund; Deutschland ist ein Einwanderungsland.

Wessen Geschichte?

Wenn in dieser Schulklasse Geschichte auf herkömmliche Weise vermittelt wird, was bedeutet das dann für Fatimah, deren Eltern aus dem Libanon geflohen sind? Fatimah hört beispielsweise im Unterricht von den Verbrechen des Nationalsozialismus. Wie soll sie sich in dieser Geschichte verorten? Was davon ist ihre Geschichte?

Das Anne Frank Zentrum hat mit „Mehrheit, Macht, Geschichte“ eines der ersten Methodensets mit Lehrerhandbuch, DVD und Schülerlesebuch zu interkulturellem Geschichtslernen veröffentlicht.

Beispielhafte Biografien

Die Materialien "Mehrheit, Macht, Geschichte" rücken von deutscher Geschichte als Nationalgeschichte ab und erzählen in sieben beispielhaften Biografien Geschichte(n), die für alle in Deutschland lebenden Jugendlichen Bedeutung haben. Also auch und gerade die Geschichte(n) von Minderheiten, von Migration und Flucht, von Diskriminierung, Widerstand und Selbstbestimmung. Interkulturelles Geschichtslernen eröffnet Jugendlichen mit unterschiedlichen Hintergründen einen Zugang zu Geschichte. Die Materialsammlung umfasst die folgenden Biografien:

Rudolf Duala Manga Bell, Königssohn aus Kamerun, wird im deutschen Kaiserreich ausgebildet. Weil er Widerstand gegen das deutsch Kolonialregime leistet, wird er 1914 hingerichtet. Seine Lebensgeschichte beleuchtet koloniale Herrschaft und antikolonialen Widerstand in Afrika.

Kwassi Bruce kommt Ende des 19. Jahrhunderts als Kind für eine sogenannte „Völkerschau“, in der seine Eltern auftreten, aus Togo nach Berlin. Anhand seiner Geschichte thematisieren Jugendliche die Situation von Schwarzen in Deutschland – gestern und heute.

Gülay Cedden kommt als kleines Kind in die Bundesrepublik, wo ihr Vater als Facharzt ausgebildet wird. Im Alter von 17 Jahren geht sie zurück in die Türkei. Ihre Lebensgeschichte steht beispielhaft für Arbeitsmigration.

Zlata Filipovic´ erlebt als junges Mädchen in Sarajewo den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzogowina und führt darüber ein Tagebuch. In ihrer Geschichte geht es um Nationalismus, Krieg und Flucht.

Anne Franks Geschichte eröffnet Jugendlichen einen Zugang zu den Themen Nationalsozialismus, Antisemitismus und Widerstand.

Stefan T. Kosin´ski erlebt 1939 als Jugendlicher in Polen die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Als die deutsche Besatzungsmacht von seiner Liebesbeziehung zu einem Wehrmachtssoldaten erfährt, wird er verhaftet und misshandelt. Die Diskriminierung homosexueller Liebe steht in seiner Geschichte im Zentrum.

Petra Rosenberg ist die Tochter von Otto Rosenberg, einem Auschwitzüberlebenden, der den Landesverband der Sinti und Roma in Berlin aufbaut. Anhand ihrer Biografie setzen sich die Jugendlichen mit der Geschichte der Sinti und Roma und mit den Vorurteilen gegen sie auseinander.

Der interkulturelle Blick

Geschichtslernen braucht den interkulturellen Blick, denn gesellschaftliche Minderheiten und Einwanderung haben die Geschichte von jeher geprägt. Durch didaktisch aufbereitete Biografien werden Nationalismus, Kolonialismus, Nationalsozialismus, Migration und Krieg so thematisiert, dass alle Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft angesprochen und zu einer Auseinandersetzung mit den Menschenrechten anregt werden. Interkulturelles Geschichtslernen fordert die Jugendlichen auf, die Perspektive zu wechseln, regt Empathie an und fördert ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein.

Das Methodenbuch für Pädagoginnen und Pädagogen mit sieben Biografien, entsprechenden Hintergrundinformationen, einer großen Vielzahl an methodischen Anregungen (inklusive DVD mit Videointerviews, Arbeitsblättern) wird ergänzt durch ein Lesebuch für Jugendliche mit kurzen Geschichten aus dem Leben der porträtierten Menschen.

Anne Frank Zentrum (Hg.) (2007): Mehrheit, Macht, Geschichte - 7 Biografien zwischen Verfolgung, Diskriminierung und Selbstbehauptung, Verlag an der Ruhr, Berlin/Mühlheim a.d.Ruhr, S. 222

Lesen Sie morgen eine Rezension der Materialsammlung "Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“ (Erfurt 2005, 2. Aufl.).

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