Verschwörungtheoretiker glauben nicht an Zufälle: Angeblich hängt alles zusammen und folgt einem Plan.
Flickr / Bablu Miah / CC BY 2.0

"Nichts ist, wie es scheint“: Michael Butters Buch zu Verschwörungstheorien

Der Amerikanist Michael Butter ist Professor an der Universität Tübingen und einer der führenden Köpfe des internationalen Forschungsprojekts „Comparative Analysis of Conspiracy Theories“. In seinem im März beim Suhrkamp-Verlag erschienenen Sachbuch „Nichts ist, wie es scheint“ charakterisiert  der Experte die wichtigsten Formen verschwörungstheoretischer Weltbilder und zeigt typische Argumentationsmuster auf. Das Ergebnis ist nicht nur äußerst informativ, sondern auch spannend.

Von Christoph M. Kluge

Alles hängt mit allem zusammen

Europa werde „geflutet mit Afrikanern und Orientalen“, behauptete die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Hermann im August 2015 in einem Artikel auf der Website Wissensmanufaktur. Die abendländische Kultur werde systematisch zerstört. Doch verantwortlich dafür seien nicht etwa die Geflüchteten selbst. Im Hintergrund ziehe ein unsichtbarer „Feind“ die Strippen. Dieser Feind „arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen“, so die umstrittene Publizistin.

Was Herman da ausbreitet, nennt Michael Butter eine „Superverschwörungstheorie“. Ein umfassendes Weltbild, das mehrere Verschwörungstheorien miteinander verbindet. Der Autor benutzt diesen bemerkenswerten Text an verschiedenen Stellen als Fallbeispiel und unterzieht ihn einer genauen Analyse. Alles hängt mit allem zusammen, schreibt die Verschwörungstheoretikerin Herman: Zufälle gibt es nicht. Alle Krisen und wichtigen Ereignisse der letzten Jahrzehnte (oder vielleicht Jahrhunderte?) sind Teil eines einzigen monströsen Plans. Dahinter steht eine nebulöse „Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems“. Von deren Existenz wissen die meisten Menschen nicht einmal, nur Eingeweihte wie die Autorin selbst und ihre Leser_innen blicken durch.

Sind Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch?

Verschwörungstheorien scheinen heute allgegenwärtig zu sein. Populisten benutzen sie, um Stimmung zu machen. Das Internet ist voll von skurrilen Blogs und YouTube-Videos, in denen allerlei finstere Komplotte behauptet werden. Journalisten und Experten warnen unablässig vor der Gefahr, die von diesen Weltbildern aussieht. Dennoch behauptet Michael Butter: Verschwörungstheorien haben keineswegs Hochkonjunktur. Im Gegenteil: Gerade die aufgeregte Debatte darüber belege, dass es sich um „stigmatisiertes Wissen“ (S. 16) handele. Diese These überrascht, doch der Autor belegt sie überzeugend.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren konspirationistische Argumentationsmuster allgemein akzeptiert – alle politischen und sozialen Gruppen haben sie vertreten. Angesehene Politiker wie der US-Präsident Abraham Lincoln beispielsweise begründeten ihre Positionen, indem sie dem jeweiligen politischen Gegner weitreichende Komplotte unterstellten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der McCarthy-Ära wandte sich die Elite der westlichen Länder vom konspirationistischen Denken ab. In seriösen Debatten wurde diese Form der Welterklärung nun nicht mehr akzeptiert. Die Bezeichnung „Verschwörungstheoretiker“ entwickelte sich zum Makel. Seither ist es nur noch in Randbereichen der Gesellschaft möglich, offen konspirationistisch zu argumentieren, ohne dafür kritisiert zu werden. Nur in der Subkultur leben die Verschwörungstheorien bis heute weiter.

Eine wichtige Ursache für diese Stigmatisierung, behauptet Butter, war eine Veränderung in den Sozial- und Geschichtswissenschaften. Gesellschaftliche Veränderungen werden seit Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts als komplexe Prozesse betrachtet, an denen viele, teils widersprüchliche Faktoren beteiligt sind. In den Verschwörungstheorien jedoch lebt eine veraltete, mechanistische Vorstellung von Mensch und Gesellschaft fort. Wenn etwas passiert, dann gibt es eine klare Ursache: Jemand hat die Entscheidung dafür getroffen, einen Plan gefasst und umgesetzt. So gesehen wirkt die Welt sehr viel übersichtlicher. Gerade in Zeiten von Krisen und beschleunigtem Wandel kann das attraktiv sein.

Verschwörungstheoretiker sind nicht krank

Verschwörungstheorien mögen irrational und sogar ziemlich verrückt erscheinen. Auf der subjektiven Ebene dient der Verschwörungsglaube jedoch der Einordnung und Vereinfachung schwieriger Zusammenhänge. Aus unüberschaubarem Chaos wird Ordnung. Der Einzelne hat das Gefühl, aus seiner Ohnmacht befreit zu sein. Er kann dafür kämpfen, die Verschwörung aufzudecken und so zu besiegen. Es mag fünf vor zwölf sein, aber der Untergang der Welt kann womöglich noch verhindert werden. Indem sie eine imaginäre Ordnung herstellen, befriedigen Verschwörungstheorien „allgemein menschliche Bedürfnisse“ (S.106).

Die Anhänger konspirationistischer Weltbilder werden in öffentlichen Debatten häufig pathologisiert, kritisiert Butter. Vor allem Journalisten, die sich selbst dem Vorwurf der „Lügenpresse“ ausgesetzt sehen, würden in Reaktion darauf geradezu Panik verbreiten. Er herrsche ein „eklatantes Missverhältnis zwischen der Aufgeregtheit, mit der das Thema derzeit diskutiert wird, und dem Wissen, das diese Diskussionen in den allermeisten Fällen informiert“ (S. 12), konstatiert der Forscher kühl.

Kenntnisreich geht der Amerikanist auf die historische Entwicklung in den Vereinigten Staaten und Deutschland ein. Verschwörungstheorien gibt es bereits seit der Frühen Neuzeit. Bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts waren sie allgemein anerkannt. Außerhalb Europas und Nordamerikas sind sei das auch heute noch so. Dass wir aktuell so erbittert über dieses Thema streiten, liegt vor allem an der Fragmentierung der Öffentlichkeit. Verschwörungstheorien verbreiten sich nicht auf einmal überall aus. Sie grassieren vielmehr in Teilöffentlichkeiten, die den Medien und der Elite skeptisch gegenüber stehen. Als Wortführer tun sich häufig ehemalige Angehörige des verhassten Establishments hervor.

Detailliert geht Butter auf Fallbeispiele ein, etwa den umstrittenen Schweizer Historiker Daniele Ganser. Der selbsternannte „Friedensforscher“ deutet in seinen Vorträgen und Büchern an, die US-Regierung stecke hinter den Anschlägen des 11. September 2001. Gansers akademischer Hintergrund macht diese Behauptungen in den Augen seiner Fans besonders glaubwürdig. Er legt sich jedoch nie fest. Ganser arbeitet keine Theorie aus, um zu klären, was wirklich geschehen ist. Der Bestseller-Autor habe die Technik des vermeintlich harmlosen „Nur-Fragen-Stellens“ (S. 83) perfektioniert, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen, schreibt Butter. Ganser hat seine Lehraufträge allerdings inzwischen verloren, denn im Wissenschaftsbetrieb wird eine solche Arbeitsweise nicht akzeptiert.

Keine Panik!

Das Internet begünstigt die Verbreitung von kruden Weltbildern. Michael Butter empfiehlt jedoch, nicht in Panik zu verfallen. Verschwörungstheorien sollten ernstgenommen und differenziert betrachtet werden. Gerüchte und Behauptungen, die sich gegen Minderheiten richten, können Rassismus und Antisemitismus verstärken. Dem muss widersprochen werden. Am gefährlichsten sind für Butter jedoch jene Verschwörungstheorien, die sich – wie die von Daniele Ganser – gegen die Institutionen des demokratischen Staates richten. Wenn die Institutionen unterminiert werden, verstärken sich Spannungen in der Gesellschaft. Angst und Unsicherheit wachsen.

Langfristig sind die Sozial- und Kulturwissenschaften gefragt, meint Butter. Menschen, die die Komplexität sozialer Prozesse verstehen, seien viel besser in Lage, seriöse von unseriösen Quellen zu unterscheiden. Deshalb sollten moderne Menschen- und Gesellschaftsbilder besser vermittelt werden.

Am Rande widerspricht der Autor einer vor allem in Deutschland verbreiteten Forderung. Einige Experten weisen den Begriff „Verschwörungstheorie“ grundsätzlich zurück und möchten lieber von „Verschwörungsideologien“ sprechen. So soll eine klare Trennlinie zwischen rationalen und irrationalen Erklärungsmodellen gezogen werden. Diese Sichtweise hält Michael Butter jedoch für problematisch. Denn dahinter erkennt er einen eng gefassten Ideologiebegriff, der in klassisch marxistischer Manier ein „falsches Bewusstsein“ unterstellt. Auch das sei nicht zeitgemäß.

Michael Butters Sachbuch gehört ohne Zweifel zu den kenntnisreichsten Veröffentlichungen zu diesem Themenfeld. Es ist gleichzeitig hochaktuell und historisch fundiert. Der Autor legt eine inhaltlich anspruchsvolle, differenzierte Argumentation vor. Dabei ist „Nichts ist, wie es scheint“ klar strukturiert und in einer ebenso deutlichen wie unterhaltsamen Sprache geschrieben. Ein wichtiges Buch.

Erschienen als Paperback bei Suhrkamp am 12.03.2018, 271 Seiten, ISBN: 978-3-518-07360-5

Christoph M. Kluge ist Literaturwissenschaftler, Historiker sowie freier Journalist in Berlin und beobachtet die neurechte Szene. Mehr von Christoph auf seiner Website Leverage und bei Twitter

Foto oben: Flickr Bablu Miah / CC BY 2.0

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