Nazi-Übergriff in Berlin-Friedrichshain: Mehr als ein Problem von Links und Rechts

In Berlin-Friedrichshain schlagen Neonazis einen 22-Jährigen fast tot. Schon fünf Tage später erscheint das in der Presse als Problem am politisch extremen Rand der Gesellschaft. Wir sprechen darüber mit Timo Reinfrank, Stiftungskoordinator der Amadeu Antonio Stiftung.

Von Bea Marer

Am Sonntagmorgen, dem 12.07.2009, kam es in Berlin zu einem der gewalttätigsten Neonazi-Übergriffe seit langem. Der 22-jährige Jonas K. wurde von vier 20- bis 26-jährigen Neonazis fast zu Tode geprügelt. Als das Opfer bewusstlos war, legten die Angreifer es mit dem Gesicht nach unten auf den Bürgersteig und einer der vier trat ihm in den Nacken und gegen den Hinterkopf. Die Neonazis konnten noch am Tatort wegen versuchten Totschlags festgenommen werden. Das Opfer liegt im Krankenhaus und ist auch fünf Tage nach der Tat noch nicht vernehmungsfähig.

Presseberichten zufolge soll der Tat eine Auseinandersetzung der vier Neonazis mit etwa zehn jungen Männern aus der linken Szene vorangegangen sein sowie eine kurze Attacke der vier Rechtsextremen auf vier weitere Passanten, die aber die Flucht ergreifen konnten. Zunächst vermutete die Polizei, das Prügelopfer sei ein zufällig ausgewählter, unbeteiligter Passant gewesen. Nun gehen die Ermittler jedoch davon aus, der 22-Jährige sei den Nazis durch sein „linkes Aussehen“ zum Opfer gefallen. Eventuell soll Jonas K. sogar bei der linken Zehnergruppe dabei gewesen sein, mit der die Neonazis zuvor aneinander geraten waren.

Am Dienstagabend, den 14.07.2009, griffen als „Antwort“ gut 200 linke Autonomen die Diskothek „Jeton“ an. Sie gilt als beliebter Szenetreff von rechtsextremistischen Jugendlichen und liegt ganz in der Nähe des Tatortes vom Sonntag. Auch die vier Täter verkehrten im „Jeton“.

Berlin-Friedrichshain gilt als alternativer Kiez, ist aber auch für Übergriffe aus der Neonazi-Szene bekannt. Hier liegen viele Anlaufstellen der rechtsextremen und der linken Szene auf engstem Raum beieinander.

Nach kurzer Solidarität mit dem Opfer reduziert sich nun die Problembeschreibung in der Öffentlichkeit auf „Streit zwischen Links- und Rechtsextremen“. Wir sprechen darüber mit Timo Reinfrank, Stiftungskoordinator der Amadeu Antonio Stiftung.

Sie haben Ihre Berliner Zeitung vom heutigen Tage gerade vor sich, was beschäftigt Sie?
Mich hat interessiert, wie von den Entwicklungen berichtet wird, die der Übergriff am S-Bahnhof Frankfurter Tor letzten Sonntag nach sich zieht. Ich konnte da in den letzten Tagen oft nur noch mit dem Kopf schütteln.

Was genau bekommt Ihnen nicht?
Ich finde es schwierig, wie dieser gewaltsame Übergriff von Presse und Politik wieder in ein Raster von Auseinandersetzungen zwischen rechts und links verlegt wird. Die Extremismuskeule schlägt wieder zu!

Es handelte sich den Fakten nach tatsächlich um eine Auseinandersetzung der beiden Szenen.
Mag sein, aber dass die Gewalttat darauf reduziert wird, finde ich problematisch. Wir bekommen in der Amadeu Antonio Stiftung schon seit Jahren Anrufe von Menschen, die Opfer von rechter Gewalt wurden – in diesem Kiez, gerade in der Nachbarschaft der Friedrichshainer Diskothek Jeton. Wir raten ihnen dann sich bei der Berliner Opferberatungsstelle Reach Out zu melden und Anzeige zu erstatten.

Der Vorfall vom Sonntag ist leider kein Einzelfall.
Genau! Schon seit über 20 Jahren gibt es immer wieder Reibereien mit Nazis und Übergriffe nazistischer Gewalt in diesem Kiez, gerade auch am S-Bahnhof Frankfurter Tor. Ich kenne das, ich habe selbst drei Jahre lang dort gewohnt. Da wurde ich häufig angepöbelt. Schwere rechte Angriffe sind immer wieder an der Tagesordnung. Im November 1992 wurde auch der Hausbesetzer Silvio Meier am benachbarten U-Bahnhof Samariter Straße von Neonazis ermordet.

Wurden Sie auch einmal Opfer eines Übergriffs?
Persönlich nicht. Aber viele meiner Freunde wollten mich nicht mehr besuchen kommen, da sie sich nicht mehr in meine Wohngegend trauten. Als dann auch noch meine Mitbewohnerinnen bis vor die Haustür von Nazis verfolgt worden sind, sind wir weg gezogen.

Haben Sie andere Schritte unternommen?
Ich habe es versucht und beim zuständigen Polizeiabschnittsleiter angefragt, was man in solchen Fällen noch tun kann. Er meinte, man könne nur 110 wählen und warten.

Diese Antwort ist etwas dürftig.
Das war im Jahr 2000, inzwischen scheint der Polizei zumindest klar zu sein, dass sie die Diskothek besser im Auge behalten sollte.

Die Liste der Möglichkeiten, sich zu wehren, ist also kurz?
Und wenn es doch mal jemand tut, wird das gleich wieder als Problem von Rechtsextremen und linken Autonomen dargestellt. Diese Sichtweise kann auch viele Menschen entmutigen, die sich seit Jahren in Initiativen gegen Nazis engagieren.

Meinen Sie, die Politiker sind dankbar, dass es sich bei dem Opfer um einen Linken handelt?
Das will ich ihnen nicht unterstellen, aber es vereinfacht die Sichtweise. So wird der Konflikt reduziert und das eigentliche Problem ausgeblendet, nämlich dass die Neonazis gewalttätig aus dem Friedrichshain eine weitere „No-Go-Area“ machen wollen. Das war im Mai 2009 sogar im Berliner Veranstaltungsmagazin „zitty“ zu lesen, da wird die Gegend um das „Jeton“ herum und der S-Bahnhof Frankfurter Allee als eine der drei gefährlichsten Orte im Hinblick auf Nazi-Angriffe in ganz Berlin benannt. Das betrifft nicht nur die Linken, sondern alle Bürgerinnen und Bürger.

Auch die Presse stürzte sich beherzt in diese Debatte, wobei mittlerweile kaum noch von dem fast tödlichen Übergriff der Neonazis die Rede ist und nun sehr auf die Gewaltbereitschaft in der autonomen Szene abgezielt wird.
Es handelt sich, wie gesagt, um versuchten Mord, der eindeutig einem rechtsextremen Weltbild folgt. Ich lehne auch die Form der Problemlösung aus der linken Szene ab, längerfristig bringt das nämlich nichts. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich die Menschen diese rechtsextremen Angriffe nicht gefallen lassen. Aber die Tendenz der Presse finde ich trotzdem problematisch.

Inwiefern?
Eigentlich ist seit Jahren in der Presse eine starke Sensibilisierung beim Thema Rechtsextremismus zu beobachten. Daher wundere ich mich über den erneuten Wandel. Ein Mensch wird von Nazis fast zu Tode geschlagen und schon nach wenigen Tagen ist der Grundtenor in den Medien wieder, die Linken seien ja besonders in letzter Zeit auch gewalttätig gewesen. Das ist doch kein Erklärung für versuchten Totschlag.

In der „Berliner Zeitung“ lässt man den Besitzer der Diskothek „Jeton“ zu Wort kommen. Er lasse jeden rein, „ob links, ob rechts, ob schwarz, ob weiß“.
Dass er sich nach rechts nicht abgrenzt ist gefährlich und auch einer der Gründe, warum sich Neonazis so wohl dort fühlen. Es wird sich ja sogar auf Facebook-Profilen aus der rechtsextremen Szene dazu verabredet, vom „Jeton“ aus Gewalttaten zu starten. Die Einrichtung dann als „Treff für Fußballfans“ zu bezeichnen, ist stark verharmlosend. Aber da gibt es im öffentlichen Diskurs keine Sensibilität und offensichtlich zu wenig Kenntnisse.

Die vier Täter kamen in Untersuchungshaft. Einer erlitt eine Platzwunde am Kopf bei der kurzen Auseinandersetzung mit vier Passanten, die später auch dem linken Spektrum zugeordnet wurden. Der Verursacher der Wunde wurde unverzüglich einem Haftrichter vorgeführt.
Und nur auf Aussage des verletzen Neonazis. Ob aus Notwehr gehandelt wurde, wird nicht bedacht. Der Linke, aber auch die Nazis waren der Polizei nicht unbekannt. Trotzdem wird hier deutlich, wie unterschiedlich scharf vorgegangen wird.

Wie denken Sie über das Auftreten der linksautonomen Szene?
Seit einiger Zeit gibt es Neonazis, die sich immer mehr dem Kleidungsstil der linksautonomen Szene anpassen, Tendenz steigend. Ich finde das äußerst problematisch und meine auch, die linke Szene sollten sich selbst ernsthafte Gedanken über einen anderen Kleidungsstil machen. Denn wenn das Auftreten à la „Black Block“ für Menschen mit rechtsextremer Gesinnung so interessant und erstrebenswert ist, müssen einem doch Zweifel kommen, ob der entindividualisierende uniformistische Stil ganz in schwarz die Botschaft sein kann, die man als Linke oder Alternativer vermitteln möchte.

Vielleicht noch ein abschließendes Wort?
Die Polizei und auch Teile der Politik sollte sich expliziter um das Problem Angstzonen in einigen Berliner Bezirken kümmern und das nicht auf bloße „Szenekämpfe“ reduzieren. Von der Presse wünsche ich mir eine Hintergrundberichterstattung, die auch die jahrelange Auseinandersetzung von vielen Bürgerinnen und Bürgern und das Engagement vieler Vereine würdigt.

Antifa-Gruppen mobilisieren für Samstag, den 18.07.2009 um 18 Uhr zu einer Gegen-Demonstration, Treffpunkt ist der Bersarinplatz in Berlin-Friedrichshain

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| Gewalt statt Party in Berlin-Friedrichshain (Mai 2008)

| Mit Angstzonen umgehen - eine Handreichung aus Berlin

| Was tun nach einem rechtsextremen Übergriff?

Weblinks

| Die Chronik der Übergriffe in Berlin von Reach Out

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