Stendal, schön.
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Leben mit Rassismus: Angekommen in Sachsen-Anhalt

Sie kamen aus Mali, Dagestan, Sierra Leone und dem Jemen – und landeten in der ostdeutschen Provinz, genauer gesagt in Stendal in Sachsen-Anhalt. Vier Migrant*innen erzählen, wie sie dort klarkommen, wo andere aus Angst vor Neonazis und Rassismus wegziehen.

Von Parvin Sadigh

Stendal in Sachsen-Anhalt; eine beschauliche Kleinstadt mit mittelalterlichem Kern, knapp zwei Prozent Ausländeranteil. Hier gibt es seit 2008 eine Initiative von Migranten und Migrantinnen, die während einer interkulturellen Woche zueinander gefunden haben. Ihr Ziel: Verständnis und Toleranz fördern.

Die rund 20 Menschen aus Afrika, Amerika, Asien und Europa gehen dazu unter anderem in Schulen und Kitas, um den Kindern die Angst vor dem Fremden zu nehmen. Außerdem helfen sie einander und sind Teil des Netzwerks für die Integration von Migranten in Sachsen-Anhalt. Vier von ihnen erzählen, warum sie trotz Diskriminierung gern im Osten Deutschlands leben.

Aida Beye hat sich in die Stadt Stendal verliebt

Alle haben mir gesagt: Wie kannst du als Schwarze in Ostdeutschland leben? Andere gehen weg – und du gehst freiwillig hin! Aber ich habe es ganz anders erlebt. Ich habe in Westdeutschland studiert und gearbeitet und den Eindruck gewonnen, dass man als Afrikanerin in der westdeutschen Elite schwer ankommt. Patienten haben gesagt: Von einer Schwarzen will ich mich nicht behandeln lassen. Oft wurde ich von Kollegen oder Patienten gefragt: Wann gehen Sie wieder nach Hause?

Ich bin dann erst mal wieder zurück nach Mali gezogen. Als ich wieder in Deutschland war, diesmal in Stendal, war alles einfacher. Ich habe mich sofort in die Stadt verliebt und wurde sehr freundlich aufgenommen.

Vorurteile haben die Menschen hier allerdings schon. Sie kennen oft überhaupt keine Ausländer. Neulich bin ich in Salzwedel einer Schülergruppe begegnet. Die Kinder haben Angst vor mir gehabt, manche sind sogar weggelaufen. Ich habe der Lehrerin vorgeschlagen, dass ich in die Schule komme und den Kindern erkläre, woher ich komme und was ich mache.

Ein anderes Mal wollte ich eine Matratze kaufen, da sagte die Verkäuferin ganz laut: "Wo sind Ihre Papiere als Sozialhilfeempfängerin?" Das ärgert mich schon, dass viele Menschen denken: Ausländer sind automatisch ungebildet und arm, ihre Kinder brauchen kein Abitur. Ich habe die Hoffnung, dass in 20 Jahren alle Menschen gleich behandelt werden. Deshalb engagiere ich mich auch in der Migranteninitiative.

Als ich gehört habe, dass Neonazis aus Zwickau zehn Menschen in Deutschland ermordet haben, hatte ich erst Angst, jeder Ausländer in Deutschland könnte umgebracht werden, einfach weil er anders ist. Dann war ich sauer, weil man gesagt hatte, die Ermordeten seien Kriminelle gewesen. Wieder die Vorurteile der Deutschen, dachte ich. Aber ich habe das Vertrauen nicht verloren. Ich hoffe, dass das deutsche Volk und vor allem die Politiker aus diesem Desaster lernen und weniger Vorurteile haben werden.

Manchmal begegne ich auch Rassisten. Aber ich gehe inzwischen auch mit denen offensiv um. Wenn Patienten mich wegen meiner Hautfarbe ablehnen, spreche ich sie nach der Behandlung darauf an. Ich sage Ihnen: Sie haben Angst und kein Vertrauen gehabt. Aber ich habe dieselbe Ausbildung wie die deutschen Kollegen. Nach einer Operation haben sich dann schon einige von ihnen für die gute Arbeit bedankt.

Meiner Tochter ging es hier zuerst sehr gut. Ich bin alleinerziehend. Sie konnte immer im Familienzentrum Färberhof sein, auch mal über Nacht, wenn ich 24 Stunden Dienst hatte. Dort hatte sie viele Freunde – bis sie in die Schule kam. Die Kinder hatten gerade ein Unicef-Projekt gemacht und überlegt, wie man den hungernden Kindern in Afrika helfen könnte. Sie konnten mit einem selbstbewussten, klugen schwarzen Mädchen nichts anfangen. Meine Tochter hat keine Freunde gefunden und war sehr unglücklich und erschöpft. Ich wollte, dass sie eine so glückliche Kindheit haben sollte wie ich. Deshalb lebt sie jetzt bei meiner Familie und ihrem Vater in Mali. Leider hat mein Land gerade Probleme und ich mache mir viele Sorgen.

 

Patima Aftorkhamova findet das Leben hier leicht

Stendal ist meine zweite Heimat geworden. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals im Ausland leben würde. Es war schwer am Anfang, allein mit den Kindern, auch, weil ich kein Deutsch gesprochen habe. Mein Mann hatte sich in Tschetschenien lange im Wald verstecken müssen. Er war einer der Sicherheitsleute von Präsident Aslan Maschadow und galt unter Putin als Terrorist. Nachdem Maschadow 2005 tot war, kam mein Mann ins Gefängnis. Seit 2006 habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Ich wollte eigentlich nach Frankreich, aber da ich hier mein viertes Kind bekommen habe, haben die deutschen Behörden gesagt, es wäre einfacher zu bleiben. Insgesamt ist das Leben hier so viel leichter als in Russland. Demokratie ist dort nur etwas für Reiche. Hier sind die Gesetze für alle gleich, auch für die Ausländer. Ich bekomme sogar Kindergeld.

Natürlich hat es mich schockiert, was die Neonazis aus Zwickau getan haben, auch das in Norwegen ist sehr schlimm. Aber ich versuche, es zu ignorieren. Außerdem ist es immer noch harmlos im Vergleich zu den Verhältnissen in Russland. Ein Freund von mir ist in Moskau von Rechtsextremen ermordet worden. Ich vertraue darauf, dass hier die meisten doch unter Kontrolle sind. Sogar die Demonstrationen der Neonazis werden ja in Deutschland von der Polizei begleitet.

Mein ältester Sohn sagt: "Klar gibt es Neonazis in der Disco. Aber Mama, die sind doch richtig nett hier im Vergleich zu denen in Russland." Die Kinder haben hier schon mal Probleme mit Besoffenen, mehr aber nicht.

Wir haben wunderbare Menschen kennengelernt. Unsere Nachbarn zum Beispiel, ein älteres Ehepaar, sind wie Oma und Opa für meine Kinder. Mein Jüngster glaubt sogar, es seien seine echten Großeltern.

Als ich in Berlin war, war ich überrascht von all den türkischen Frauen mit ihren Kopftüchern. Ich bin auch Muslimin, trage aber kein Kopftuch. Denn einerseits halte ich mich an ein Sprichwort, das mein Opa immer benutzt hat: "Wenn du zu Besuch bist, musst du essen, was die Gastgeber essen. Deinen Samowar bringst du nicht mit." Meine Religion ist wichtig für mich, aber ich bete für mich allein. Andererseits hätte ich aber auch Angst, öffentlich ein Kopftuch zu tragen. Ohne Kopftuch falle ich ja nicht als Ausländerin auf.

Ich habe schon Sehnsucht nach der Heimat. Aber meine Kinder wollen nicht zurückgehen. Wenn meine Tochter in der Schule gefragt wird, was sie ist, sagt sie: Ich bin eine deutsche Muslimin.

Usen Kamara macht die Leute locker

Fast 15 Jahre habe ich im Asylbewerberheim gelebt, erst in Halberstadt, später dann in Stendal. Mein Verfahren hat so lange gedauert, weil ich keinen Pass hatte. Doch zum Glück ist mir vor etwa einem Jahr Asyl bewilligt worden. Erst jetzt darf ich einen Integrationskurs besuchen und kann dort besser Deutsch lernen.

In unserem Dorf in Sierra Leone war die Situation immer schlimmer geworden. Die Rebellen hatten uns unsere Tiere weggenommen und mich bedroht: Entweder du machst bei uns mit, oder du bist tot. 1997 bin ich zwei Tage zu Fuß von meinem Dorf in die Hauptstadt gelaufen. Dort haben mir Soldaten geholfen. Ich bin dann schließlich mit einem Schiff in Bremerhaven angekommen.

Ich hatte viel Angst, nach Ostdeutschland zu kommen. Bekannte haben mir erzählt: Die Leute dort schlagen Ausländer. So etwas habe ich zum Glück nie erlebt, aber am Anfang war es schon sehr schwer. Ich habe immer wieder gehört: "Du Neger". Die neu angekommenen Asylbewerber sind selbst immer wieder aggressiv geworden, wenn sie von den Neonazis provoziert worden sind, und haben sich auf Beschimpfungen und Schlägereien eingelassen. Das war sehr bedrohlich.

Doch ich habe bald viele nette Menschen in Stendal kennengelernt und jetzt weiß ich, mit wem ich es zu tun habe. Ich habe keine Angst mehr, ich gehe auf Leute zu, die Vorurteile haben.

Neulich im Kaufland in Stendal habe ich zwei Jungs getroffen, die mich angemacht haben: Wie siehst du denn aus? Der eine war sehr aggressiv, der andere hat zum Glück abgewiegelt. Die Leute aus dem Umland machen so etwas eher als die in Stendal. Aber ich habe meine Philosophie: Ich bringe sie zum Lachen, ich mache sie locker, ich sage: Hey, du bist mein Bruder.

Ich mache viel Musik und das Trommeln hilft, mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Mit den Leuten von der Migranteninitiative gehen wir in Schulen und Kitas. Dort mache ich Musik mit den Kindern und erzähle ihnen von Afrika. Das macht mir viel Spaß. Ich glaube aber, dass ich es einfacher habe als Leute, die nicht so leicht auf andere zugehen.

Widad Alban erklärt Kindern den Islam

Ich fühle mich wohl hier in Stendal. Ich erlebe keinen Hass, nur selten kleine Feindseligkeiten. Zum Beispiel lief im Supermarkt eine der Verkäuferinnen immer hinter mir her und starrte mich an. Irgendwann habe ich sie angesprochen. Ich habe ihr gesagt, wie ich heiße, in welcher Straße ich wohne und dass ich aus dem Jemen komme. Dann war Ruhe.

Meine Kinder hatten am Anfang schon Probleme, als wir neu hier waren. Die kleinste, Zara, war damals in der 5. Klasse und wurde von einem Jungen angegriffen und jeden Tag beschimpft. "Türken raus" hieß es dann. Wir haben versucht, mit dem Kind zu sprechen, auch den Kontakt mit den Eltern gesucht – die wollten mit uns aber nicht reden. Doch dann wurde der Junge krank und musste operiert werden. Die Stadt ist klein, mein Mann war zufälligerweise im OP-Saal. Als das Kind aufgewacht ist, hat es ihn als den Vater seines Opfers erkannt. Seitdem sind wir beste Freunde.

Auch ich habe auf der Straße ab und an dieses "Türken raus" gehört. Bloß weil ich ein Kopftuch trage, denken die Leute, ich wäre eine Türkin. Daran merkt man, wie wenig sie über Muslime wissen. Aber das ist nicht die Regel. Ich erlebe die Leute hier meist als tolerant. Allerdings glaube ich, dass es einfach daran liegt, dass mich inzwischen alle hier kennen. Ich bin viel unterwegs in Schulen und Kindergärten. Ich erkläre im Ethikunterricht, was der Islam ist, wie wir beten, was es mit der Pilgerfahrt nach Mekka auf sich hat, warum manche Musliminnen ein Kopftuch tragen und welche Feste wir feiern.

Neulich war ich in einem Seniorenheim und die Leute hatten viele Fragen. Sie waren ganz erstaunt, dass eine Muslimin nicht immer zu Hause sitzt und ihrem Mann gehorcht. Ich habe ihnen erklärt, dass gerade im Jemen, einem sehr streng muslimischen Land, die Frauen oft sehr gut ausgebildet und selbständig sind. Meine Schwestern haben alle studiert. Zwei sind Lehrerinnen, eine ist Ingenieurin und ich bin Ärztin.

Das heißt nicht, dass andere Migranten hier in Stendal nicht große Probleme haben. Im Stadtteil Stadtsee wohnen viele Asylbewerber. Sie bleiben dort oft unter sich. Wir von der Migranteninitiative versuchen, sie zu erreichen. Mit einer Frau aus dem Kosovo habe ich zum Beispiel stundenlang geredet. Sie hat versprochen, zu unseren Treffen zu kommen. Aber sie ist nie gekommen. Sie hatte immer eine Ausrede: Ein Kind war krank, sie hatte Bauchweh. Ich denke, manche haben Angst oder einfach kein Interesse. Sie wollen nicht über ihre Probleme reden.

Stendal ist toll, aber ich habe sehr viel Sehnsucht nach meiner Heimat. Zum Glück bin ich nicht mehr so allein. Ich habe Freundinnen gefunden, mit denen ich zusammen bete. Mit ihnen fahre ich auch am Opfer- und Zuckerfest nach Magdeburg oder Berlin, um in die Moschee zu gehen. Das gibt mir viel Halt.

Dieser Artikel erschien zuerst am 22.05.2012 auf ZEIT online. Mit freundlicher Genehmigung.

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