Jahresrückblick 2011 - Ein Todesopfer, eine Terrozelle und viele rechtsextreme Events in Sachsen

Für die NPD ist Sachsen das Vorbild für ganz Deutschland. 2011 wurde NPD-Sachsen-Chef Holger Apfel zum Vorsitzenden der Bundes-NPD gewählt. Die Kameradschafts-Szene ist groß - und gewalttätig. In Oschatz gab es mit Andre K. ein Todesopfer rechtsextremer Gewalt. Nicht zuletzt wohnten die Mitglieder der Terrogruppe NSU in Sachsen.

Für das Kulturbüro Sachsen e.V. antwortet uns heute Michael Nattke.

Was waren die wichtigsten Ereignisse in Ihrem Bundesland 2011, bezogen auf Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus?

Der Freistaat Sachsen ist seit den 1990er Jahren eine Hochburg des organisierten Neonazismus in der Bundesrepublik. Dies lässt sich nicht nur an der flächendeckenden Verankerung der NPD, ihrer Mitgliedschaft im Landtag sowie in allen Kreistagen und zahlreichen Kommunalparlamenten festmachen. Seit 2011 ist der sächsische NPD-Fraktionsvorsitzende Holger Apfel der Bundesvorsitzende der Neonazi-Partei und hat zahlreiche sächsische Kader mit in die Parteispitze genommen. Darüber hinaus verfügt die parteiunabhängige Naziszene im Bundesland über gut funktionierende Strukturen.

Entsprechend hoch sind seit vielen Jahren auch die Zahlen der gewalttätigen Übergriffe auf andere Menschen. Im Jahr 2011 gab es in Folge dieser Übergriffe erneut ein Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen. Am 27. Mai 2011 wurde der 50-jährige Wohnungslose Andrè K. in der Kleinstadt Oschatz von drei jungen Männern angegriffen und brutal zusammengeschlagen. Einige Tage später starb er an seinen schweren Kopfverletzungen. Mindestens einer der Angreifer ist ein bekennender Neonazi. Nach derzeitigem Ermittlungsstand haben sich die vermeintlich rechten Schläger verabredet um Andre K. aus Hass gegen „Asoziale“ und „Penner“ anzugreifen. Sie sollen ihn mit Schlägen und Tritten malträtiert und anschließend einfach liegen gelassen haben. Der Tod von André K. hat überregional nur sehr wenig Beachtung gefunden. Sollten sich die Verdachtsmomente bestätigen, dann ist Andrè K. das vierte Todesopfer rechter Gewalt innerhalb der letzten vier Jahre in Sachsen. Im Jahr 2008 wurde in Leipzig der Wohnungslose Karl-Heinz Teichmann zu Tode geprügelt, 2009 die Ägyptherin Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht von einem Rassisten erstochen und 2010 Kamal Kilade von Neonazis in Leipzig getötet.

Auch 2011 spielte Sachsen bei den neonazistischen Großereignissen eine herausragende Rolle. Zum einen gab es rund um den 13./19. Februar rechte Aufmärsche mit mehreren tausend Teilnehmer_innen in Dresden. Neben dem 13./19. Februar haben sich im Jahr 2011 weitere Großereignisse in Sachsen etablieren können. Im Juli 2011 nahmen mehr als 2.000 Neonazis in Ostsachsen am zweitägigen Deutschen Stimme-Pressefest teil. Es fanden Ansprachen bekannter Alt-und Neonazis aus unterschiedlichen europäischen Staaten sowie der gesamten NPD-Spitze statt. Höhepunkt des Festes waren die Auftritte von mindestens zwölf unterschiedlichen rechten Bands und Liedermachern. Als wichtiger Konzertstandort etablierte sich darüber hinaus der Gasthof „Zur deutschen Eiche“ im ostsächsischen Rothenburg. Dort fanden im Jahr 2011 Neonazi-Konzerte mit bis zu 1.300 Teilnehmer_innen statt.

Im Jahresrückblick 2011 zum Freistaat Sachsen ist auch die rechte Terrorzelle mit der Selbstbezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nicht zu vergessen. Die Hauptakteur_innen der Gruppe – Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – lebten seit einigen Jahren im westsächsischen Zwickau. Es ist davon auszugehen, dass der Ort von welchem die Terrorzelle operierte nicht zufällig gewählt war. In Westsachsen existiert seit Jahren eine gut vernetzte parteiunabhängige Neonazi-Szene. Erste Verbindungen zu dieser Szene, z.B. ins benachbarte Johanngeorgenstadt konnten im Zuge der Ermittlungen bereits aufgezeigt werden. Weitere Verbindungen werden sicherlich folgen.

Wie sind die Erwartungen für 2012?

Die Ereignisse rund um den 13. Februar 2012 werden im neuen Jahr erneut einen Schwerpunkt innerhalb der sächsischen Neonazi-Szene und darüber hinaus darstellen. Nach den erfolgreichen Blockaden der Aufmärsche in den letzten Jahren sind die Neonazis gezwungen, ihre Vorgehensweise zu ändern, um den Stellenwert dieses Aufmarsches in der Szene nicht zu gefährden. Sollten sie ihren Aufmarsch erneut an einem Wochenende durchführen, ist damit zu rechnen, dass erfolgreiche Blockaden nur schwer zu unterbinden sein werden. Es deutet derzeit alles darauf hin, dass sich die Neonazis auf den traditionellen Aufmarsch am Abend des 13. Februar 2012 konzentrieren, um ihre eigentliche Zielstellung – die Durchführung eines geschichtsrevisionistischen Trauermarsches – durchzusetzen. Da der Tag nicht auf ein Wochenende, sondern auf einen Montag fällt ist die bundesweite Mobilisierung von Widerstand gegen diesen Aufmarsch deutlich schwieriger zu organisieren als in den vergangenen Jahren. Zu erwarten ist außerdem, dass die Großereignisse in Ostsachsen, wie z.B. Konzertveranstaltungen in Rothenburg oder Deutsche Stimme-Pressefest in Qitzdorf auch im neuen Jahr tausende Neonazis anlocken werden. Der Protest gegen diese Großevents in der ländlichen Region gestaltet sich weitaus schwieriger als beispielsweise im städtischen Rahmen.

Nach dem medialen Hype rund um die Entdeckung der „Zwickauer Terrorzelle“ stellt sich für das neue Jahr die Frage, ob die Aufmerksamkeit für die Themen des organisierten Neonazismus sowie Rassismus, Antisemitismus und andere Facetten der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufrecht erhalten werden kann. Gerade die Gewöhnung an die Verankerung von NPD und parteiunabhängiger Neonazi-Szene insbesondere in den ländlichen Regionen stellt nach wie vor eine akute Bedrohung dar. Es bleibt daher eine ständige Aufgabe den Normalisierungs-und Gewöhnungsprozessen von extrem rechter Organisierung und menschenfeindlichen Einstellungen in Sachsen und anderswo zu begegnen.

Mehr im Internet:
| Kulturbüro Sachsen e.V.

Mehr auf netz-gegen-nazis.de:

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