Jahresrückblick 2010 - Mittelhessische Neonazis werden aktiver und die NPD angriffslustiger

In Hessen hat 2010 vor allem ein Brandanschlag der autonomen rechtsextremen Szene auf ein Wohnhaus in Wetzlar Aufsehen erregt. Außerdem fanden Rechtsrockkonzerte und bizarre Neonazi-Partys statt.

Heute antwortet Mikis Rieb vom Netzwerk für Demokratie und Courage Hessen

Was waren die wichtigsten Ereignisse in Hessen im Jahr 2010, bezogen auf Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus?

Der Raum Kassel und der Schwalm-Eder-Kreis zählen beständig zu den Schwerpunktregionen der extremen Rechten. Gruppierungen wie der ‚Freie Widerstand Kassel‘, die ‚Autonomen Nationalisten Kassel‘ und weiter im Süden die ‚Freien Kräfte Schwalm-Eder‘ machen immer wieder durch Farbschmierereien und brutale Übergriffe auf sich aufmerksam.

Im Jahr 2010 hat allerdings die Region Mittelhessen bis ins angrenzende Rhein-Maingebiet für Aufsehen gesorgt. Im Lahn-Dill-Kreis müssen sich seit April vier Neonazis aus dem Umfeld der ‚Autonomen Nationalisten Wetzlar‘ und der ‚Anti-Antifa Wetzlar‘ wegen versuchten Mordes in vier Fällen vor Gericht verantworten. Sie hatten in der Nacht vom 4. auf den 5. März einen Brandsatz gegen die hölzerne Eingangstür eines Wohnhauses in der Wetzlarer Innenstadt geschleudert. Der Anschlag galt einem 48-jährigen Pastoralreferenten, der sich gegen extreme Rechte in der Region engagiert. Die derzeitigen BewohnerInnen des Hauses, die Ehefrau des Pastoralreferenten sowie drei der gemeinsamen Kinder konnten den Brand mit Hilfe einer Nachbarin löschen und blieben physisch unverletzt. Dem Anschlag gingen zahlreiche Aktionen der ‚Autonomen Nationalisten‘ und der ‚Anti-Antifa‘ voraus. Darunter mehrere Farbanschläge und Angriffe auf Veranstaltungen und Treffpunkte des Wetzlarer Bündnisses gegen Nazis und gegen weitere linke Szenetreffpunkte in Wetzlar und auch in Gießen. Eine Demonstration mit rund 1000 TeilnehmerInnen, die als Reaktion auf den Brandanschlag stattfand, versuchten mehrere junge Neonazis erfolglos zu stören. Seit Prozessbeginn und dem Umzug eines wichtigen Protagonisten der ‚Autonomen Nationalisten‘ nach Dortmund ist es zum Jahresende um die beiden Neonazigruppen ruhiger geworden. Die jeweiligen Internetseiten werden nur noch sporadisch aktualisiert. Ob diese Ruhe jedoch anhalten wird ist fraglich, da ein Aktivist der ‚Anti-Antifa Wetzlar‘ in einem Brief an einen der Angeklagten die Bestrafung desjenigen ankündigte, der die entscheidenden Hinweise für die Festnahme der Brandstifter gab.

Etwas weiter im Süden des Lahn-Dill-Kreises, an der Grenze zum Hochtaunuskreis, fand am 14. August ein Rechtsrock-Konzert mit der Band ‚Kategorie C – Hungrige Wölfe‘ statt. Rund 400 Gäste, unter denen sich zahlreiche Neonazis befanden, wurden über ein Infotelefon und einen Schleusungspunkt in die Diskothek ‚Mystage‘ in Waldsolms-Brandoberndorf gelotst. Nicht zufällig wurde das ‚Mystage‘ als Veranstaltungsort für die wohl bedeutendste Rechtsrockveranstaltung dieses Jahres in Hessen gewählt. Regelmäßig finden dort sogenannte ‚Onkelz-‘ und ‚Deutschrock-Partys‘ statt, zu denen sich Neonazis aus den angrenzenden Landkreisen einfinden. Zwar regt sich seit dem ‚Kategorie C‘-Konzert, das unter den Augen einer Hundertschaft der Polizei stattfand, Protest in Brandoberndorf, aber bis jetzt finden auch weiterhin Partys mit zahlreichen extrem rechten Gästen statt.

Im angrenzenden Wetteraukreis hat sich indes ein junger Neonazi im ländlichen Echzell nahe Wölfersheim eingerichtet. Gekauft hat er dort eine alte Hofreite, die er ‚Old Brothers Castle‘ nennt und insbesondere für bizarre Partys nutzt. Als besonderen „Partygag“ hat er einen der Räume zu einer Gaskammer umgebaut, wie ehemalige BesucherInnen berichten. ‚Old Brothers‘ ist auch der Name einer von ihm betriebenen Security-Firma sowie eines Tätowierstudios, das er ebenfalls in den Gebäuden der Hofreite betreibt. Bereits vor dem Kauf der Gebäude in Echzell war der junge Mann, der sich selbst ‚Schlitzer‘ nennt, auffällig geworden. Seinen Tätowierladen betrieb er zuvor in Wölfersheim und verkaufte über die dazugehörige Internetseite T-Shirts mit rassistischen und neonazistischen Motiven. Dass der junge Neonazi gute Kontakte in Rockerkreise und in das Türstehermillieu besitzt, verleiht dem ganzen eine besondere Brisanz. Schwer hat es auch das Bürgerbündnis unter dem Titel ‚Grätsche gegen Rechtsaußen‘, das sich bereits kurz nach dem Bekanntwerden des Zuzugs des Neonazis gründete. Im Juli kam es dann zu einem Zwischenfall bei einer der Partys im ‚Old Brothers Castle‘. Unter den Augen der Polizei wurde ein Nachbar, der sich zuvor über die Lautstärke beschwert hatte und im Bürgerbündnis aktiv ist, schwer misshandelt und später im Internet bloßgestellt.

Obwohl sich der junge Neonazi aus Echzell mehrfach über die NPD lustig machte und seine Verachtung zum Ausdruck brachte, versucht sich die extrem rechte Partei, zu deren Hochburgen der Wetteraukreis gehört, einzumischen. Als das Echzeller Bürgerbündnis am 28. August ein ‚Festival gegen Rechtsaußen‘ veranstaltet, mobilisiert die NPD zu einer Gegenkundgebung zu der sich schließlich 25 Rechte einfanden. Eine Aktion, die in Hessen noch aus einem anderen Grund bemerkenswert ist. Denn die hessische NPD reagiert nun auf antifaschistische Aktionen und Veranstaltungen mit Gegenveranstaltungen. Bereits am 9. Juni hatte die NPD zu einer Demonstration gegen eine Veranstaltung mit Andrea Röpke in Butzbach aufgerufen. Den 20 Neonazis, unter denen auch ‚Autonome Nationalisten‘ aus dem Schwalm-Eder-Kreis und dem Raum Wetzlar waren, gelang es jedoch nicht die Veranstaltung zu stören. Auch der Versuch einer anschließenden Spontandemonstration scheiterte. Auch wenn diese neue Taktik – den politischen Gegner bei seinen eigenen Aktionen unter Druck zu setzen – bisher nicht auf zu gehen scheint, kann dies dennoch als Strategiewandel gesehen werden. Ein Strategiewandel, der eventuell mit den schwindenden Mitgliederzahlen zusammen hängt, mit denen die hessische NPD zu kämpfen hat, seit die charismatische Führungsfigur Marcel Wöll fehlt.

Was erwarten Sie 2011?

Die Halbwertszeit von Prognosen über die Entwicklung der extremen Rechten ist erfahrungsmäßig gering. Das trifft insbesondere auf die sogenannten ‚Freien Kräfte‘ zu. Mit Blick auf die NPD kann man allerdings vermuten, dass sich der einsetzende Aktionismus, der sich gegenläufig zur schwindenden Mitgliederzahl entwickelt hat, noch verstärkt. Ende März 2011 stehen in Hessen die Kommunalwahlen an und die Wetterauer NPD hat bereits jetzt ihren Wahlkampf eingeläutet. Gerade in der Wetterau wird sie versuchen ihre Hochburg zu verteidigen. Ob es ihr gelingt und ob sie es zudem schafft neue Mitglieder zu werben wird sich zeigen müssen. Den Willen, im nächsten Jahr für Aufsehen zu sorgen, hat die extrem rechte Partei bereits mit der Anmeldung einer Demonstration am 16. Juli in Gießen gezeigt. Gerade in jener Stadt, in der es AntifaschistInnen immer wieder gelang ein öffentliches Auftreten von NPD-AktivistInnen zu stören und zu verhindern, soll nun eine ‚bundesweite Großdemonstration‘ stattfinden, wie die eigens eingerichtete Sonderseite ankündigt.

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