Fast so frustriert wie die Rechten

Ob Ausländer verprügelt werden oder Bücher brennen – wenn Neonazis zuschlagen, wirkt die Polizei in Ostdeutschland oft hilflos. Warum? Ein Revierbesuch

Von Marian Blasberg

Die polizeiliche Lagebesprechung in Naumburg an der Saale sah für den Morgen des 20. September 2007 nichts Außergewöhnliches vor. Polizeibeamte hatten in den letzten 24 Stunden unter anderem die Leiche einer Frau entdeckt, die seit Tagen unbemerkt in ihrer Wohnung lag; ein 15-jähriges Mädchen, das aus einem Heim für schwer erziehbare Kinder ausgebüxt war, galt für ein paar Stunden als vermisst, und am Dom montierten Diebe gleich neben dem Hauptportal ein Fallrohr ab, vermutlich um es auf dem Schrottplatz zu versetzen. »Jetzt vergreifen sie sich schon an unserem schönen Dom«, kommentierte Wolfgang Brendel, der Revierleiter, während der Lagebesprechung in der Frühe.

Zwei Stunden später steht Brendel mit seinem Kollegen Rainer Ossig auf einem kleinen Friedhof am Fuß der Burgruine Saaleck. Es ist ein stiller Morgen, die Herbstsonne taucht die mächtigen Buchen in ein leuchtendes Rot. Immer wieder mal fährt Brendel raus nach Saaleck, um nach der Grabstelle zu sehen, wo die Mörder Walther Rathenaus gelegen haben. Rathenau war Außenminister in der Weimarer Republik und Jude. Der Friedhof ist ein Wallfahrtsort für Neonazis. Jedes Jahr im Juli marschieren sie hier auf und legen Kränze nieder, und jedes Jahr schickt Brendel eine Gruppe, einen Zug und manchmal eine Hundertschaft. Jetzt bückt er sich und fischt drei schwarz-weiß-rote Fähnchen aus der frisch geharkten Erde.

Am Friedhofseingang sitzen zwei alte Mütterchen auf einer Bank und stricken. Neben ihnen hängt die Friedhofsordnung, auf der ein NPD-Aufkleber pappt. Als Brendel ihn beim Gehen abkratzt, sieht eine der beiden Alten auf und sagt: »Es ist doch verrückt, dass heute auch die Kinder nachts schon draußen rumlaufen.« Brendel baut sich vor den beiden auf. Unter seiner Uniform wölbt sich ein strammer Bauch. Er lächelt. »Nicht jeder«, sagt er, »kann halt mit der Freiheit umgehen.«

Dann klingelt sein Diensthandy

In der Leitung ist Frau Riske vom Jugendzentrum Otto. Bei ihr säßen ein paar Punks, berichtet sie, die letzte Nacht von Rechten überfallen wurden. Die Rechten hätten ihre Buttons konfisziert und dann gesagt, dass sie die Buttons morgen Mittag, 15 Uhr, am Hauptbahnhof zurückbekämen. Sie sagten, dass sie demonstrieren wollten. Brendel wirkt jetzt plötzlich angespannt. »Ossig«, sagt er, »morgen schon was vor?«

Polizeidirektor Wolfgang Brendel, der drei goldene Sterne auf der Schulter trägt und vor über vierzig Jahren aus Berufung Polizist geworden ist, stammt eigentlich aus Niedersachsen. Gleich nach der Wende ging er in den Osten, zunächst nach Merseburg als Inspektionsleiter und dann, Mitte der Neunziger, als Revierleiter nach Naumburg. Brendel sagt, er wollte etwas aufbauen, Strukturen schaffen, etwas, das bleibt, wenn er bald in den Ruhestand eintritt, aber das alles scheint in diesen Tagen ewig fern. Selten, sagt er, habe er so unter Druck gestanden.

Die Einschläge rücktennäher in der Vergangenheit, und sie waren wuchtig, allesamt. In Dessau verbrannte der Afrikaner Oury Jalloh in der Zelle eines Polizeireviers, in Pretzien verbrannten Neonazis das Tagebuch der Anne Frank, und in Halberstadt überfielen rechte Schläger eine Gruppe Schauspieler, die aussahen wie Punks, weil sie zuvor Premiere feierten mit ihrer Rocky Horror Picture Show.

Dessau. Pretzien. Halberstadt.

Es sind Städte, die in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Synonym geworden sind für das Versagen der Polizei. In Dessau kam heraus, dass bei der Aufklärung des Falles absichtlich vertuscht wurde. In Pretzien, hieß es, hätten die Beamten nicht gewusst, was da in Flammen aufging, und in Halberstadt habe man das rechte Auge zugedrückt und dann die Täter ziehen lassen. Die Öffentlichkeit rätselte, was los war mit der Polizei in Sachsen-Anhalt, aber die schottete sich ab, fühlte sich unverstanden und zu Unrecht angegriffen, weil das Versagen Einzelner verallgemeinert wurde. Wenn man als Journalist in diesen Wochen darum bat, sich ein Revier genauer ansehen zu dürfen, dann wurde auf den Datenschutz verwiesen, auf die Strukturreform und immer wieder auf Erfahrungen, die man mit Kamerateams von RTL gemacht hat. Es schien, als seien Polizeireviere No-go-Areas für Journalisten, bis der Wessi Wolfgang Brendel schließlich sagte: Kommen Sie vorbei, reden Sie mit meinen Leuten. Und glauben Sie nicht, dass die Tatsache, dass wir bislang verschont geblieben sind, etwas bedeutet.

Brendel, der ein Haus gebaut hat in der Stadt, pappt den NPD-Aufkleber aufs Handschuhfach. Während Ossig ihren Dienst-Benz zügig in Richtung Wache lenkt, fragt er das Ordnungsamt, ob für Samstag eine Demo angemeldet ist. Dann ruft er beim Staatsschutz an und fragt, ob die was wissen, und während Brendel überlegt, wie er auf die Schnelle einen Einsatzzug zusammenstellt, gleiten sie durch sanfte Weinhügel. In der Ferne ragt der Dom auf über restaurierten Altstadtmauern, Naumburg war Modellstadt in den Neunzigern, das Geld floss in die Stadt, aber die Menschen gingen. Knapp fünf Prozent der Dagebliebenen wählten bei den Kreistagswahlen im April die NPD, und in Naumburg fragt man sich seitdem, ob das nun viel ist oder wenig.

Ende der Neunziger, sagt Brendel, gab es mal Probleme mit einer Gruppe, die sich Anti-Antifa genannt hat; die Gruppe war recht umtriebig, aber das erledigte sich dann, als ihr Anführer in einen anderen Landkreis zog. Seither, sagt Brendel, gibt es in der Gegend keine rechte Szene mehr. Es blieb, abgesehen von den Aufmärschen in Saaleck, ruhig, aber er spürt, dass sich das langsam wieder ändert. Die Verunsicherung schleicht sich zurück. Kürzlich war er draußen auf dem Land in Bergesdorf, wo ein Black-Metal-Konzert anstand, zu dem auch ein paar Neonazis erwartet wurden. Brendel streifte durch die Kneipe, er lauschte der Musik und den Gesprächen auf dem Klo, zwei Stunden lang, dann ging er wieder.

Uns wurde zugetragen, dass ein paar führende Köpfe da gewesen sind, sagte am nächsten Morgen ein Verfassungsschützer.

Habe ich gesehen, antwortete Brendel.

Und, was haben die gemacht?

Die waren einfach da. Das kann ich ihnen nicht verbieten.

Die Rechten, sagt Brendel, haben dazugelernt. Sie unterwandern die Vereine und veranstalten Familienfeste. Sie kleideten sich nun im Gewand des Bürgers. Sie sind schwerer zu greifen für die Polizei, aber in den Ministerien ist man durstig nach Erfolgen. Jedem müsse klar sein, heißt es in einem der Erlasse, die jetzt in immer kürzeren Abständen hereinflattern, dass ausländische Firmen ihr Engagement nur dann verstärken, wenn sich das Land und seine Bürger als demokratisch, weltoffen und tolerant erweisen.

Nach Pretzien hat Brendel deshalb unter seinen Leuten eine Umfrage gemacht, bei der herauskam, dass das Tagebuch der Anne Frank hier allgemein bekannt ist. Er hat, für alle Fälle, einen PowerPoint-Vortrag gehalten über verfassungsfeindliche Symbole, und nach dem Vortrag hat er einen Ordner angelegt, doch diese späten Korrekturversuche wirken eher wie ein Ausdruck der Verzweiflung als ein Ausweg aus der Krise. Brendel weiß, dass die Probleme tiefer liegen. Dass es um einen Feind geht, der viel ungreifbarer als ein Neonazi ist. 17 Jahre nach der Wende, sagt der Revierleiter, meldeten sich manche Kollegen immer noch in bestem DDR-Amtsdeutsch mit »Teilnehmer« am Telefon.

Der Bruch damals kam plötzlich, und für die Polizisten war er hart. Vier Wochen gab man einem einfachen Beamten nach der Wende, um den Schalter umzulegen, vier Wochen, so lange dauerte die Umschulung, und auf dem Lehrplan stand ein ganzes Land, standen Strafrecht und Prozessrecht. Beamtenrecht, Verkehrsrecht, Ordnungsrecht. Staatsrecht und Verfassungsrecht. Man lernte das Prinzip der Leistung. Man lernte, dass man nicht mehr warten soll, bis ein Befehl kommt, und dass man nicht bei jeder Kleinigkeit nach seinem Vorgesetzten ruft. Man lernte, auch nach Dienstschluss zu lernen, aber viele Polizisten sahen das nicht ein. Sie sahen die Kollegen, die aus dem Verkehr gezogen wurden, weil mit ihren Stasiunterlagen was nicht stimmte, und sie fragten sich, was wohl aus ihnen werden würde. Sie waren mit sich selbst beschäftigt. Es fehlte die Sicherheit, um in eigener Verantwortung Entscheidungen zu treffen, und so standen sie nur tatenlos daneben, als in Rostock-Lichtenhagen plötzlich Brandsätze auf Asylantenheime flogen.

Die Leute waren überfordert, sagt Wolfgang Brendel, und deshalb lernten sie, sich durchzumogeln. Wer »Teilnehmer« sagt, der zeigt dem Anrufer, dass er persönlich mit der Sache nichts zu tun hat.

Einer wie der Polizeiobermeister Willi Kobold* würde alles das natürlich vehement bestreiten, aber Kobold hat jetzt keine Lust zu reden. Während Brendel oben im Sozialraum seine Mittagsstulle auspackt, steht Kobold draußen im Hof neben einem vollen Ascher und stopft Pfeifentabak in eine Zigarettenhülse. Die Raucherecke ist hier überdacht.

Kobold ist ein kleiner, älterer Mann mit etwas längerem grauem Haar. Er trägt ein selbst gestochenes Tattoo am Unterarm, es ist ein Herz aus schwarzer Tinte. Kobold raucht. Und schweigt. Aber irgendetwas in ihm brodelt.

»Kommen Sie«, brummt Kobold plötzlich und steuert auf einen noch recht neuen, silberblauen Benz zu. Er fährt mit seiner Hand über die Stoßstange. »Hier«, sagt er. »Kratzer. Bin beim Zurückrollen gegen einen Poller. Hoffe, dass sie mir das glauben. Dass ich gerollt und nicht gefahren bin, denn wäre ich gefahren, wär’s mein Fehler, und dann ziehen sie die Kosten für den neuen Lack vom Lohn ab. Aber das passiert, wenn man überlastet ist.«

Kobold steckt sich eine neue Zigarette an. Er redet sich in Rage, er regt sich auf darüber, dass Pensionäre nicht ersetzt werden, und schimpft über den neuen Schichtdienst, der sich am Bedarf orientiert, weshalb es sein kann, dass er in der Woche zweimal Früh- und dreimal Spätschicht hat. Er schimpft über die stichsichere Weste, die ihm versprochen, aber nie geliefert wurde, und auf den Computer, vor dem er täglich ein paar Stunden sitzt. Mit zwei Fingern hackt er dann auf dieser Tastatur herum, trägt Unfallzeiten ein und Unfallorte, Personalien und Promillewerte. Früher, sagt er, gab es dafür eine Schreibkraft, heute gibt es Ärger, wenn ein Komma fehlt.

Es ist ein anderer Beruf als der, den er gelernt hat vor der Wende. Willi Kobold war mal Hundeführer, aber als die Mauer fiel, gab er das Tier zurück. Wie so viele, sagt er, habe er geglaubt, dass alles besser werde, und wie so viele wurde er enttäuscht. All die großen Versprechen! Nicht mal die Reisefreiheit, sagt er, wurde eingelöst. Für einen Auslandsurlaub reiche sein Gehalt nicht aus.

In der DDR, fährt er fort, habe sich nach 25 Dienstjahren automatisch das Gehalt erhöht, jetzt verlieh ihm Brendel eine Urkunde. In der DDR, sagt er, habe es Prämien gegeben für besondere Leistungen, und jetzt verdienen sie noch immer weniger als jeder Westkollege. Wer im Osten einen Polizisten beleidigte, der landete im Knast, aber im Westen hält der Polizist die zweite Wange hin. Kobold sagt, es fehle der Respekt. Er fühle sich als Servicekraft, die vor allem Englisch sprechen soll mit den Touristen, und so, wie er da steht und lamentiert, wirkt es, als wäre er auf seine Art nicht minder perspektivlos als die Trinker, die er nachts aus dem Verkehr fischt.

Es ist nur ein Nebensatz, doch irgendwann sagt Kobold, der das Tagebuch der Anne Frank gelesen hat, dass er verstehen kann, wenn seine Frau darüber klagt, dass Ausländer zum Beispiel keine Praxisgebühr zahlen müssen.

Kobold schläft seit Jahren immer schlechter. Wenn er von der Nachtschicht kommt, dann schluckt er Beruhigungsmittel und sieht lange fern. Er hat mitbekommen, dass immer mehr Kollegen seines Alters aus dem Dienst ausscheiden, wegen Herzinfarkten, Depressionen, Stress. Kobold ist jetzt 55. Fünf Jahre bleiben ihm noch bis zur Rente. Er sagt: »Ich zähl sie mittlerweile rückwärts.«

Wo Kobold seinen Austritt aus dem Dienst erleben wird, weiß er noch nicht. Seit dem großen Umbruch wurde unaufhörlich an der Polizeistruktur herumgedoktert. Nach der Wende gab es im Land zwei Inspektionen, Eisleben und Merseburg, aber weil man die Gebiete für zu groß erachtete, fächerte man sie auf in sechs. Weil andere nun aber meinen, dass die Verwaltung früher effizienter war, werden aus den sechs Bereichen demnächst wieder drei. Für einige Beamte heißt das, dass sie ihren Standort wechseln müssen, und Wolfgang Brendel weiß, dass diese Ungewissheit an den Nerven zehrt. Er spürt, dass es im Hof rumort. Er sagt, er würde gern mal wieder jemanden befördern. Es ist seine wirkungsvollste Waffe im Kampf um die Moral der Mitarbeiter, aber das Budget im Land lässt das derzeit nicht zu.

Am Nachmittag macht sich der Kriminalbeamte Uli Völkel auf die Suche nach dem Punker Olli Kapplan*, der letzte Nacht von Neonazis überfallen wurde. Völkel, Mitte 40, ist ein zerstreuter Typ, der normalerweise Eigentumsdelikte aufklärt. Er parkt seinen Wagen in einer Gasse hinter der Stadtmauer.

Kapplan trägt ein Hundehalsband, als er in der Tür erscheint. Auf seinem T-Shirt steht, dass kein Alkohol auch keine Lösung ist. Er setzt sich auf die Rückbank, schnallt sich an und grinst.

Was machste denn?, fragt Völkel. Machste überhaupt was?

Ausbildung als Zerspanungstechniker, sagt Kapplan. Rohrverschlüsse drehen und so.

Und, wirste übernommen?

Mal sehen, kommt auf den Bedarf an.

Kommt drauf an, sagt Völkel, ob du ernst nimmst, was auf deinem T-Shirt steht.

Auf dem Revier wird Kapplan dann an den Kollegen Klamm übergeben, der aber daran scheitert, ihn zu einer Aussage zu bringen. »Bringt ja eh nüscht«, erklärt Kapplan später, als er im Jugendzentrum Otto in einer tiefen Couch versinkt. Kapplan kannte Klamm von früher. Ein Fascho ist mal mit dem Messer auf ihn losgegangen, aber das Verfahren damals wurde eingestellt, weil beide zu besoffen waren. Kapplan traut der Polizei seitdem nicht mehr. Er hält sie für befangen, für nicht neutral. Er hat gehört, dass zwei von ihnen mit den Hooligans vom Naumburger BC rumhängen, aber er will jetzt auch nicht alle über einen Kamm scheren. Der Klamm, sagt er, ist eigentlich okay.

Die Punks in Naumburg glauben, dass sie langsam etwas Oberwasser kriegen. Vor Kurzem haben sie die Anwälte vom Mobilen Opferdienst ins Jugendzentrum eingeladen, die sie ermutigten, die jüngsten Übergriffe anzuzeigen, was sie aus Angst vor Racheakten sonst nicht tun. Und dann gab es den Aktionstag vor drei Wochen, als sie Workshops abgehalten haben, in denen Zeitzeugen vom »Dritten Reich« berichteten. Später zogen sie mit Transparenten durch die Stadt. Wolfgang Brendel, der Mitglied ist im Naumburger Bündnis für Demokratie, hat diesen Tag mitorganisiert. Er sagt, es sei ein Versuch gewesen, die Zivilgesellschaft wachzurütteln, aber es kamen ganze 142 Leute.

Einmal im Monat trifft sich Brendels Bündnis-Arbeitsgruppe. Es sei wichtig, sagt er, dass die Polizei sich einbringt in der Prävention. Ende der Neunziger gab es schon mal einen Präventionsrat. Polizisten saßen dort an einem Tisch mit Lehrern und Sozialarbeitern. Es ging darum, die öffentlichen Einrichtungen besser zu vernetzen, doch die Sache schlief schnell wieder ein. Als die Stadt nur wenig später auch noch ihre einzigen zwei Streetworker entließ, schrieb Brendel in einem ohnmächtigen Aufsatz, dass die Polizei immer am Ende der gesellschaftlichen Lösungskette stehen wird.

Uwe Tettenborn, Dienstgruppenleiter in der Nachtschicht, hat inzwischen übernommen. Er streift mit seinem Dienstbus durch die menschenleeren Gassen in der Innenstadt. Tettenborn ist ein gemütlicher Bär, der einen Vollbart trägt und mittlerweile auch jenseits der Fünfzig angekommen ist. Vor der Wende war er mal beim Brandschutz, danach hatte er im Westen hospitiert. Als er am Marktplatz einen abgetretenen Mülleimer am Boden liegen sieht, steigt Tettenborn aus. Er zieht die Plastikhandschuhe aus seinem Gürtel und hängt den Eimer wieder ein. Dann bückt er sich und pflückt die Rotzfahnen und Dönerreste auf. »Wenn ich’s nicht mache,« sagt er, »heißt es morgen wieder: Die Polizei war da und hat mal wieder nichts gesehen.« Es macht ihn rasend. Manchmal, wenn er einen dieser jungen Randalierer packen kann, dann redet er ihm ins Gewissen. Dann fragt er ihn, ob er es mag, wenn Müll vor seiner Haustür liegt, und manchmal kommt es Tettenborn so vor, als arbeite er auf, was all die Eltern nicht mehr hinbekommen.

Früher am Abend hatte man ihn rausgerufen, weil am Lindenring aus einem Fenster volksverhetzende Musik dröhnte. Der glatzköpfige Inhaber der Wohnung war runter an die Tür gekommen, und während sie dort diskutierten, grölte oben einer laut »Sieg Heil«. Tettenborn ließ nun die Bude stürmen, es gab etwas Krawall, und als er diese Sache später am Computer abarbeitete, wurde er von einem Anruf unterbrochen. Ein Busfahrer war dran, der sagte, er habe in der Rossbachstraße einen jungen Mann gesehen, der sich von der Brücke stürzen wolle. Tettenborn fuhr raus, es war der Glatzkopf von vorhin. Sie fuhren ihn dann in die Psychiatrie, und während Tettenborn jetzt überlegt, ob sich der Mann vielleicht vor einer Anzeige gefürchtet hat, kommt über Funk die Nachricht, dass seine Exfreundin gerade auf der Wache eingetroffen sei. Sie teilt nun mit, dass sie am Nachmittag ihre Beziehung beendet habe. »Aha«, sagt Tettenborn, »auch Nazis haben also Liebeskummer.«

Aber diese Anekdote zeigt noch etwas anderes, vielleicht Grundsätzlicheres, denn für jemanden wie Tettenborn ist es die Ausnahme, dass sich der Ausschnitt einer Tat nachträglich erweitert. Die Täter, sagt er, haben normalerweise keine Biografie. Alles, was man zu fassen kriegt, sind die abgetretenen Mülleimer am Marktplatz, sind die Promillepegel auf den Alkomaten und die Reichskriegsflaggen in den Wohnungen. Es sind die immergleichen Muster, aus denen man die immergleiche Story strickt, eine Story, die von Langeweile handelt, von Alkoholexzessen und von Vorbildern, die es nicht gibt. Es ist eine Story, die erklären soll, was Arbeitslosigkeit aus Menschen macht, aber ein alter Polizist wie Tettenborn weiß auch, dass die Erklärungen im Vagen bleiben. Dass sie ein Boden sind, aus dem Klischees und Vorurteile sprießen.

Es ist das Dilemma eines jeden Polizisten. Wenn man erst verstanden hat, dass man nie den ganzen Plot bekommt, dann fragt man irgendwann nicht mehr, warum die tote Frau so lange in der Wohnung lag. Wenn man gleich weitermuss zum nächsten Tatort, dann gibt es Drängenderes als die Frage, warum gerade dieser Mensch so viel getrunken hat. Wer überleben will in dem Beruf, stumpft mit den Jahren ab. Er kommt an einen Punkt, an dem er Dinge einfach nur noch feststellt. Im Osten haben viele Polizisten diesen Punkt erreicht.

Nach der Wende wurden alle, die die 50 überschritten hatten, in den Ruhestand geschickt. Die anderen, die damals übernommen wurden, kommen jetzt in dieses Alter, und sie wirken abgenutzt und müde. Es sind Leute wie Willi Kobold, für die es nur noch darum geht, unbeschadet durchzukommen.

Samstag, Frühschicht. Seit den Morgenstunden kontrollieren Beamte der Bereitschaft die Straßen um den Hauptbahnhof. Einsatzleiter Rainer Ossig kurvt durch die Innenstadt, aber auch dort lassen sich keine Anzeichen für einen Aufmarsch finden. Ossig erzählt, dass sie seit Neuestem auch zu Volks- und Sportfesten gerufen werden. Eigentlich, sagt er, seien dafür die privaten Sicherheitsdienste zuständig, aber weil die nicht ganz billig sind, kommen die Veranstalter jetzt immer häufiger auf die Idee, dass es Stress mit Rechten geben könnte. Die wissen, da müssen wir dann hin, sagt Ossig.

Gegen vier Uhr stellt Ossig seinen Wagen schließlich auf dem Parkplatz ab. »So ist das,« sagt er, »wieder mal ein Wochenende im Arsch.«

*Name auf Wunsch geändert

Erscheinungsdatum 1.11.2007

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