"Autonome Nationalisten" sind wandelnde Widersprüche: Englischsprachige Parolen, aber Ablehnung alles Nicht-Deutschen, Übernahme linker Symboliken, aber inhaltlich NS-Verehrung. Trotzdem boomt die Szene - warum? Interview mit dem Wissenschaftler Jan Schedler, Autor von "Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung".
Von Hannah Frühauf
Jan Schedler ist Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Zusammen mit Alexander Häusler hat er ein Buch zum Thema Autonome Nationalisten herausgegeben. „Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung“ wurde am 15. April 2011 veröffentlicht.
Wer sind die Autonomen Nationalisten?
Die ‚Autonomen Nationalisten‘ (AN) sind gewaltbereite Neonazis, die sich durch die Übernahme von Codes und Aktionsformen der linken Szene auszeichnen. In Deutschland gibt es zurzeit etwa 5.600 gewaltbereite Neonazis. Diese sind größtenteils in sogenannten „Freien Kameradschaften“ organisiert, als deren grellste Erscheinungsform die AN gelten. Allerdings verschwimmen die Grenzen zunehmend. Die ersten AN entstanden im Jahr 2002 in Berlin und dem Ruhrgebiet. Große mediale Aufmerksamkeit erlangten die AN beispielsweise 2008 im Rahmen einer Demonstration in Hamburg zum ersten Mai. Journalisten, Gegendemonstranten und die Polizei wurden hier massiv von den AN angegriffen. Die Polizei gab nach den Ausschreitungen an, dass sie das Phänomen eines „Schwarzen Blocks“ von Neonazis bisher nur aus Ostdeutschland kenne, dabei lag der Schwerpunkt der AN damals wie heute in den westlichen Bundesländern.
Inwiefern übernehmen die AN Codes aus der linken Szene?
Man bedient sich sowohl in Bezug auf Kleidung, vor allem aber die Gestaltung von Transparenten, Aufklebern oder auch Websites bei der Linken, adaptiert Symbolik, Ästhetik und teilweise auch die Diktion. Verbreitung findet etwa der neue Kleidungsstil nicht nur durch Aktionen der AN, sondern durch die Popularisierung von NSHC (National Socialist Hard Core) – Hardcore-Musik mit neonazistischen Texten. Hardcore – eigentlich eine der linken Szene zugeschriebene Musikrichtung - ist mittlerweile auch unter den AN beliebt. Im Rahmen eines Seminars spielte ich Studenten einen Videoausschnitt eines Neonazi-Hardcore Konzerts vor. Daraufhin meldete sich ein verblüffter Student und erzählte, dass sich die Hardcore-Konzerte, die er in seiner Freizeit besuche, auf den ersten Blick gar nicht von diesem Neonazi-Konzert unterscheiden ließen. Auch viele AN wirken auf den ersten Blick nicht wie Neonazis – sie widersprechen dem üblichen Klischee. Diese Neonazis tragen populäre Streetwear-Marken und bunte Buttons, haben „Tunnel“ in den Ohren, manchmal gar buntgefärbte Haare. Sie sind also nicht sofort als Neonazis identifizierbar.
Wie lässt sich dieser Wandel der rechtsextremen Szene erklären?
Aussteiger erzählen, dass der Wandel beziehungsweise die Modernisierung der Neonazi-Szene für sie wie eine Befreiung war. Endlich kann man auch als Neonazi Döner essen, sich anziehen wie man will, die Musik hören die man will - eben aus den alten, strengen Regeln ausbrechen. Das war und ist zum einen interessant für Leute, die schon lange in der Neonazi-Szene aktiv sind, sich mehr Freiheiten wünschen und die nach einem zeitgemäßen Äußeren streben. Es ist aber auch attraktiv für neue, junge ‚Kameraden‘, ist man doch beispielsweise von Eltern oder Lehrern nicht mehr sofort als Neonazi identifizierbar. Der Neonazismus ist so heute interessanter für Jugendliche, allerdings hat sich auch die Fluktuation in dieser Szene erhöht. Dadurch, dass man nicht mehr direkt als Neonazi zu erkennen ist, ist der Einstieg zum einen leichter – der Ausstieg aber eben auch.
Nutzen die AN und die Freien Kameradschaften verstärkt das Internet als Informations- und Aktionsplattform?
Ja, viele der eigenen Aktionen werden von den AN im Internet dokumentiert. Videos von Demonstrationen werden auf „youtube“ hochgeladen oder auf die eigenen Homepages gestellt. Die Webseiten der Gruppen sind oft professionell gemacht und graphisch ansprechend gestaltet. Die AN bedienen sich auch anderer beliebter Formen der Jugendkultur: Während Graffiti bislang unter Neonazis als Verschandelung der Landschaft galt, nutzen die AN diese Kunstform für sich. Man geht gemeinsam sprühen, gemeinsam plakatieren, nutzt Sprühschablonen um die eigenen Botschaften zu verbreiten. Gerade diese „Erlebniswelt“ hat eine große Bedeutung für die AN. Auf junge Menschen übt das alles eine starke Anziehungskraft aus.
Werden dadurch auch Jugendliche an die rechtsextreme Szene herangeführt, die bisher nicht mit dieser in Kontakt waren?
Nein, dies dürfte die Ausnahme sein. Es werden dadurch nicht unbedingt Jugendliche angesprochen, die auf diesem Wege „aus Versehen“ in die extreme Rechte reinrutschen. Zumeist besteht schon zuvor eine gewisse Affinität – für solche Leute ist so eine agile Szene allerdings bedeutend attraktiver als es der Neonazismus früher war.
Sind ihnen Reaktionen auf diese „Nachahmung“ aus der linken Szene bekannt?
Einige fragen sich sicherlich: „Warum werden wir kopiert?“ Das hat zum Teil mit der zunehmenden Entleerung politischer Symbole zu tun. Das aber etwa ein „Schwarzer Block“, das heißt ein Agieren als uniformierte, gewaltbereite, homogene Masse auf Neonazis anziehend wirkt, darf niemand wundern. Interessant ist in dem Zusammenhang aber auch eine andere Frage. Wenn sich die Neonazis jetzt anziehen wie Linke, wenn sie Parolen der linken Szene übernehmen, wenn sie vereinzelt gar vegan leben und sich für die Rechte von Tieren einsetzen – wie rechtfertigen sie dann, dass sie gegen Menschen hetzen? Die AN sind quasi wandelnde Widersprüche, da kann es schon mal vorkommen, dass irgendwann die eigene Patchwork- Ideologie in Frage gestellt wird.
Wie sind die AN und die Freien Kameradschaften strukturiert?
Es gibt keine festen, bundesweiten Strukturen. Die einzelnen Gruppen sind relativ autonom und können dadurch gut auf lokale Themen eingehen. Es gibt vor allem regionale Vernetzungsstrukturen, überregional ist man über das Internet und die Führungspersonen verbunden. In der AN-Szene wird suggeriert, dass alle gleichberechtigt an Diskussionen teilnehmen und die Aktionen der Gruppe mitbestimmen könnten, in Wirklichkeit sind autoritäre Strukturen jedoch nach wie vor an der Tagesordnung.
In welchen Regionen Deutschlands sind die Autonomen Nationalisten gegenwärtig am stärksten vertreten?
Nordrhein-Westfalen ist immer noch eine Hochburg der AN. Das Ruhrgebiet – hier vor allem Dortmund – und das Rheinland sind betroffen. Schwerpunkt war lange auch Südwestdeutschland, generell sind die AN inzwischen aber bundesweit vertreten, auch in den östlichen Bundesländern.
Und durch welche Aktionen machen die AN dort auf sich aufmerksam?
Es gibt eine Vielzahl von Aktionen. Im Fokus stehen vor allem jene, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Im letzten Jahr haben Kollegen der Universität Bielefeld zum Beispiel eine Studie zum Thema Rechtsextremismus in Dortmund durchgeführt. Als diese im Dortmunder Rathaus präsentiert wurde, waren etwa 30 AN anwesend und bildeten somit einen Großteil der Zuhörerschaft. Für die Veranstalter kam dieser Vorfall überraschend – gleichzeitig ist er typisch für die Präsenz und den Aktionismus der AN. Von bundesweiter Bedeutung ist insbesondere die Demonstration zum Antikriegstag, in NRW ziehen seit 2008 in Stolberg bei Aachen jährlich größere Neonazi-Aktionen zum Todestag von Kevin Plum zahlreiche AN an.
Kevin Plum, der junge Mann der im April 2008 in Stolberg von einem libanesischen Jugendlichen getötet wurde?
Ja, genau. Die „Freien Kameradschaften“ missbrauchen seither diesen traurigen Vorfall für ihre Zwecke. Sie versuchen die „Trauermärsche“ als neues Großereignis im Neonazismus zu etablieren.
Und das obwohl Kevin Plum kein Neonazi war. Wenn die Szene also im Allgemeinen modernisiert wurde, gibt es dann auch ein neues Ziel, dass die AN mit ihren Aktionen verfolgen?
Nein. Das Ziel der AN ist es, den Nationalsozialismus wiederherzustellen. Verändert haben sich nicht die Inhalte, sondern es wird versucht, diese mit Blick auf gegenwärtige Feindbilder und Ressentiments zu aktualisieren. Gleichzeitig bedienen sich des rebellischen Habitus linker Jugendkultur als Projektionsfläche für ihre politischen Ziele.
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