Ein Versuch, die litauische Geschichte umzuschreiben

In Litauen wird gegen jüdische Partisanen wegen Kriegsverbrechen während der deutschen Besatzung ermittelt. Ultranationalistische Medien flankieren das Ganze mit antisemistischen Hetzkampagnen. Um ihren Protest auszudrücken, starteten vier Wissenschaftlerinnen aus Deutschland eine internationale Unterschriftenaktion. Ein Interview über Vergangenheitsbewältigung in Litauen mit Gudrun Schroeter, Susanne Heim und Franziska Bruder.

Netz-gegen-Nazis: Seit einiger Zeit ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft in Vilnius gegen ehemalige Widerstandskämpfer. Ihnen werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Sie haben in einem Offenen Brief dazu aufgerufen, die Verfolgung der ehemaligen jüdischen Partisanen einzustellen. Warum?

Susanne Heim: Seit Monaten werden im Zusammenhang mit den Ermittlungen der litauischen Staatsanwaltschaft zu einer Partisanenaktion im Jahr 1944, bei der Zivilisten getötet wurden, in der Presse die Namen ehemaliger jüdischer Partisanen genannt. Auf diese Weise entstand der Eindruck, dass die Genannten für Verbrechen an der Zivilbevölkerung verantwortlich wären, ohne dass derartige Vorwürfe je konkretisiert wurden.

Ultranationalistische Medien flankieren die staatsanwaltlichen Ermittlungen mit einer antisemitischen Pressekampagne. Wir fordern in einem Offenen Brief, die Verfolgung der ehemaligen jüdischen PartisanInnen einzustellen.

Gegen welche Personen wird im Einzelnen ermittelt?

Gudrun Schroeter: Ermittlungen liefen gegen Yitzhak Arad, den ehemaligen Direktor der Forschungsabteilung der israelischen Holocaust-Gedenkstaätte Yad Vashem und Autoren zahlreicher historische Untersuchungen zur Shoah. Ermittelt wurde hier wegen angeblicher NKWD-Tätigkeit, die Staatsanwaltschaft sprach von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die es aufzuklären gelte. Diese Ermittlungen wurden vor kurzem eingestellt. Bis dahin aber war gerade Arads Name breit und mit verleumderischen Vorwürfen in der Presse genannt worden, nicht nur in Litauen, sondern zum Beispiel auch in der zweitgrößten polnischen Tageszeitung.

Weitere Ermittlungen gibt es gegen Fania Branstowski, Bibliothekarin im Jüdischen Institut der Universität in Vilnius. Außerdem gegen Rachel Margolis, eine ehemalige Dozentin für Biologie an der Universität in Vilnius. Ihre Autobiografie Als Partisanin in Wilna ist Anfang des Jahres auf deutsch erschienen. Und schließlich wird ermittelt gegen Sara Ginaite-Rubinson, ihre Memoiren sind bisher nur in englischer Sprache zu lesen: Resistance and Survival. The Jewish Community in Kaunas 1941-1944.

Alle vier haben während der deutschen Besatzung Litauens einen Großteil ihrer Familien verloren Sie flohen als junge Frauen und Männer aus den Ghettos und stießen zu den Partisanen und leisteten so Widerstand gegen das Hitleregime. Später haben sie alle sich viele Jahre lang dafür eingesetzt, dass die jüdische Geschichte Litauens und die Shoah nicht vergessen werden. Nun sollen diese Frauen – offiziell - als Zeuginnen im Zusammenhang mit einer Partisanenaktion in Kaniukai (polnisch Koniuchy) im Jahr 1944 befragt werden. Dazu liegt aber bereits ein gründlicher 172-seitiger Untersuchungsbericht des polnischen Instituts zur nationalen Erinnerung, IPN, aus dem Jahr 2001 vor. Der Fall gilt als aufgeklärt.

Die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen unter der deutschen und der sowjetischen Besatzung ist in Litauen ein wichtiges Regierungsanliegen. Präsident Adamkus hat 1998 eine Kommission eingesetzt. Was hat die bisher erreicht?

Franziska Bruder: Bemerkenswert ist, dass mit Yitzhak Arad ein Mitglied der Kommission, die die Ermordung von 95 Prozent der jüdischen litauischen Bevölkerung untersucht, nun selbst in den Fokus der Ermittlungen gerät. 220.000 von 250.000 Juden wurden in Litauen von den Deutschen und ihren litauischen Kollaborateuren ermordet. In den 18 Jahren der litauischen Unabhängigkeit ist hingegen kein einziger Nazi-Kollaborateur belangt worden. Leider haben die Historiker der besagten Kommission auf die Vorwürfe gegen Arad in keiner Weise reagiert. Dass Arad keine Unterstützung seitens der Kollegen erfährt, legt Vermutungen auf deren einseitige Schwerpunktsetzung in der Geschichtsschreibung nah.

Und die Medien nahmen die Ermittlungen dankbar auf und starteten eine antisemistische Hetzkampagne?

Gudrun Schroeter: Einige der Artikel in ultranationalistischen Zeitungen wie Ukininko patarejo, oder auch der Lietuvos aidas wurden von aktuellen oder ehemaligen Parlamentsabgeordneten geschrieben. Auffällig ist, dass dieser mit allen möglichen antisemitischen Stereotypen jonglierenden Hetze nichts entgegengesetzt wird – kritische Stimmen sind in Litauen leider völlig marginal.

Wie ist der Stand der Vergangenheitsbewältigung in Litauen?

Franziska Bruder: In Litauen ist derzeit nicht nur unter Nationalisten, sondern auch bei der Mehrheit der demokratischen Politiker die sogenannte Doppelte-Genozid-These populär: Dabei wird die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft gleichgesetzt mit sowjetischer Repression gegen das litauische Volk.

Die historische Aufarbeitung der sowjetischen Besatzungszeit in Litauen ist ohne Zweifel notwendig. In der Praxis aber sieht die Anwendung der doppelten Genozid-These zudem verschränkt mit dem Stereotyp des jüdischen Kommunisten so aus: Das Leiden nichtjüdischer Litauer steht an erster Stelle. (Litauische) Täter im Holocaust, also die Kollaborateure der Deutschen tauchen nicht mehr auf – und den Juden wird vorgeworfen, den Holocaust zu funktionalisieren. So wird jenseits aller juristischen Fragen ein Unrechtbewusstsein in der Gesellschaft ausgelöscht. Im Ergebnis bedeutet das ein Umschreiben der Geschichte des Landes und der Shoah.

Wie viele Unterschriften haben Sie für den Offenen Brief zur Einstellung der Ermittlungen erhalten? Und was erwarten Sie von politischer Seite?

Susanne Heim: Innerhalb kurzer Zeit haben sich etwa 800 Menschen aus verschiedenen Städten und Ländern, mit den unterschiedlichsten Berufen und Betätigungen solidarisch erklärt. Der Offene Brief wurde ins Englische und Russische übersetzt. Es gab europaweit ein großes Interesse an den Ereignissen in Litauen.

Was die Erwartungen an die Politik betrifft: Unser Brief ist nur eine Aktivität von vielen. Die Gremien des Europäischen Parlaments sowie die deutschen politischen Vertretungen sind nach wie vor gefordert, ihren Einfluss geltend zu machen. Wir haben den Brief mit den Unterschriften dem litauischen Botschafter in Berlin übergeben mit der Bitte, ihn an den Präsidenten von Litauen und die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Das wurde uns zugesagt.

Präsident Valdas Adamkus soll nach den internationalen Protesten zugesagt haben, die Ermittlungen einzustellen. Gibt es Anzeichen, dass dieses Versprechen umgesetzt wird?
Susanne Heim: Am 15. September 2008 verkündete Staatsanwaltschaft, die Ermittlung gegen Yitzhak Arad sei eingestellt, sagte aber kein Wort zu den drei Frauen. Solange die Vorwürfe gegen sie noch im Raume stehen, ist Adamkus‘ Versprechen nicht eingelöst.

Das Interview führte Haidy Damm.

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