Bei den jüngsten Wahlen in Tunesien erhielt die islamistische Ennahdha Partei über 40 Prozent der Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung. Zur gleichen Zeit verkündete in Libyen der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, dass das zukünftige Rechtssystem des Landes auf der Grundlage der Scharia aufbauen solle. Und auch in Ägypten, wo die Wahlen Ende November begonnen haben, gehen Beobachter von einer dominanten Rolle der Muslimbruderschaft aus. Der politische Islam scheint auf dem Weg zurück zur Macht. Was heißt das - gerade im Bezug auf Antisemitismus?
Von Malte Switkes vel Wittels
Der politische Islam scheint auf dem Weg zurück zur Macht. Medial geht bereits das Wort eines „arabischen Herbstes“ um, ein reaktionärer Rückschritt und eine Marginalisierung säkularer Kräfte werden befürchtet. Vor diesem Hintergrund sollen nachfolgend die Wurzeln des politischen Islams und die Problematik des Antisemitismus in der Bewegung näher beleuchtet werden.
Die Gründung der Muslimbruderschaft
Einen historischen Beginn stellt die Gründung der „Gesellschaft der Muslimbrüder“ im Jahre 1928 dar. Diese von dem Lehrer Hassan al-Banna in Ägypten gegründete Organisation stellt bis heute die erfolgreichste und einflussreichste Gruppierung innerhalb der islamistischen Bewegung dar. Ihre Gründung steht im engen Zusammenhang mit der postkolonialen Situation Ägyptens nach 1922 und dem Einfluss des europäischen Nationalismus auf die jungen arabischen Staaten. Die Muslimbrüder verstanden sich als eine revolutionäre Bewegung, die sich gegen eine von ihnen konstatierte „Verwässerung“ des Islams im eigenen Land stellten und alle schädlichen, westlichen Einflüsse abschütteln wollten. Dabei entwickelte sich die Bruderschaft bis 1948 zu einer Massenorganisation mit bis zu 500.000 Mitgliedern. Revolutionär war auch ihr internationaler Anspruch. Es wurden Ableger in weiteren arabischen Ländern gegründet und ein 40.000 Kämpfer umfassender paramilitärischer Flügel aufgebaut. Erklärte Ziele der Bruderschaft waren unter anderem die Abschaffung des Parlamentarismus zugunsten eines auf der Scharia basierenden Kalifats und die Beseitigung von Zins und Kapital. Verbunden war das Ganze mit einer breiten sozialen Wohltätigkeit mittels eigener Schulen, Krankenhäuser und Moscheen und der Forderung nach einer sozialen Absicherung der Arbeiterschaft. Insgesamt sollte die strikte Anwendung des islamischen Rechts zur Kernaufgabe des Staates werden.
Islamismus und Djihad
Für den Islamismus sollte sich die Neudeutung des Djihad durch Hassan al-Banna als bis heute wirkungsmächtig erweisen. Im Mittelpunkt dieser Deutung steht die Erklärung eines heiligen Krieges, welcher gegen die Ungläubigen geführt werden solle. Die ursprünglich vorherrschende Auffassung einer alleinigen Anstrengung für den Glauben wurde durch al-Banna militärisch umgedeutet. In seinem Artikel „Die Todesindustrie“ von 1938 legt al-Banna dieses Konzept dar. Er glorifiziert dort die „Liebe zum Tod“ und erklärt, dass Gott derjenigen Nation ein stolzes Leben gäbe, welche die Industrie des Todes perfektioniere. Er schaffte damit die ideologische Grundlage für die Opferung durch den Märtyrertod gegen die Feinde des Islam. Ziel dieser lebensverachtenden Agitation waren neben der von ihnen als korrupt und dekadent gebrandmarkten Regierung auch die ägyptischen Juden. Diese lebten bis 1937 in relativer Sicherheit und Wohlstand in Ägypten und gestalteten das politische Leben mit. Doch es begann sich dieser Zustand zu ändern, als die Muslimbrüder 1936 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen. Im Zusammenhang stand dies auch mit einer zunehmend judenfeindlichen öffentlichen Meinung unter Einflussnahme der Nationalsozialisten aus Deutschland. Al-Banna machte sich dabei insbesondere den Konflikt in Palästina geschickt zu Nutze, um seine Idee des Djihad zu propagieren. Der Kampf für ein „judenfreies Palästina“ wurde so für eine islamistische Massenmobilisierung instrumentalisiert.
Der Mufti von Jerusalem und die Verbindung mit dem Nationalsozialismus
Einen Verbündeten fanden die Muslimbrüder in Amin el-Huseini, dem Mufti von Jerusalem, welcher maßgeblich für die antijüdischen Pogrome in Jerusalem 1929 verantwortlich war. El-Huseini islamisierte dabei den Kampf gegen die jüdische Einwanderung und schreckte auch später vor einer Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten nicht zurück. Sein radikaler Antisemitismus stand dem der Deutschen in nichts nach. El-Huseini avancierte im Laufe des Zweiten Weltkrieges zum glühendsten Verfechter der Nazis im arabischen Raum und freundete sich sogar mit Heinrich Himmler an. Als hasserfüllter Prediger erklärte er im Angesicht der Gräuel der Shoa, dass er die Juden „am liebsten alle umgebracht sähe“. Hassan al-Banna und Amin el-Huseini bildeten ein tödliches Gespann, die in ihrem Judenhass vereint waren. 1947 wurde el-Huseini schließlich zum Führer der Muslimbrüder in Palästina ernannt.
Eine Zäsur stellte sich 1948 mit der Ausrufung des israelischen Staates durch David Ben-Gurion ein. Nur wenige Stunden nach der Proklamation wurde dieser von Ägypten gemeinsam mit weiteren arabischen Ländern angegriffen. In Folge der verheerenden Niederlage sah sich die ägyptische Regierung in dieser turbulenten Zeit gezwungen einem Umsturzversuch der Muslimbrüder zuvor zu kommen. Noch im selben Jahr wurde die Organisation verboten und alle ihre Mitglieder verfolgt. Auch al-Banna fiel diesen Verfolgungen zum Opfer und starb 1949. Der djihadistische Islamismus und der mit ihm verbundene Antisemitismus waren jedoch damit nicht ausgelöscht - ganz im Gegenteil. Verschwörungsideologischer Antisemitismus im Angesicht der militärischen Niederlage und der antizionistische Kampf gegen Israel sollten die zwei bestimmenden Kernthemen des Islamismus bleiben.
Verschwörungsideologischer Antisemitismus
Als wirkungsmächtigster Verfechter dieses islamistischen Antisemitismus entwickelte sich der Muslimbruder Sayyid Qutb. Dieser nahm die djihadistische Idee al-Bannas auf und verband sie noch stärker als zuvor mit den Kampf gegen das „Weltjudentum“ als erklärtem Hauptfeind. Dabei kommt den verschwörungsideologischen Elementen eine zentrale Bedeutung zu. Qutb imaginierte eine „jüdische Verschwörung gegen den Islam“, die er mit Stereotypen des originär europäischen Antisemitismus, wie dem antisemitischen Pamphlet der Protokolle der Weisen von Zion, anreicherte. In seiner bis heute einflussreichen Schrift „Unser Kampf mit den Juden“ von 1950 entwickelte Qutb programmatisch seine antijüdische Ideologie. Er spricht dort von einem Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt hätten und folgert: „Von ihrem ersten Tag an waren Juden die Feinde der muslimischen Gemeinschaft.“ In ideengeschichtlicher Ähnlichkeit zum völkischen Antisemitismus deutscher Provenienz stellt er eine harmonische gewachsene Gemeinschaft gegen einen vermeintlich zersetzenden Einfluss der „volksfremden“ Juden. Qutb führt in diesem Zusammenhang aus:
„In der jüngsten Ära sind Juden an jedem Punkt dieser Erde die Anführer des Kampfes gegen den Islam geworden. […] Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude; und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der geheiligten Beziehungen in der Gesellschaft steckte ebenfalls ein Jude."
Diese wahnhaften Vorwürfe, deren Stereotype aus der NS-Propaganda erschreckend bekannt wirken, sind verbunden mit der antisemitischen Figur des jüdischen Verschwörers, der im geheimen agiert. Dazu heißt es weiter:
„Diesen jüdischen Konsens würde man niemals in einem Vertrag oder auf einer offenen Konferenz ausgesprochen finden. Es handelt sich stattdessen um eine stille Übereinkunft zwischen dem einen Agenten und dem anderen hinsichtlich des wichtigen Ziels.“
Die Propagierung dieser Dichotomie einer muslimischen Gemeinschaft gegen Juden in der Gesellschaft sollte sich bis heute als dominant für den Diskurs innerhalb der islamischen Welt erweisen. Insbesondere die Vorstellung einer Verschwörung der Juden gegen den Islam wurde ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen common sense. Eine Kontinuität dieser wahnhaften Ideen findet sich heute in der Terrororganisation der Hamas.
Die Charta der Hamas
Die Hamas bezeichnet sich in ihrer Charta von 1988 selbst als eine „Islamische Widerstandbewegung“ und einen „Flügel der Muslimbrüder in Palästina“. Weiterhin sehen sie sich in der Tradition des „Heiligen Krieges der Muslimbrüder von 1936“. Die Hamas ist eines der jüngsten Beispiele für das Erbe der Djihad-Ideologie Hassan al-Bannas und der antisemitischen Verschwörungsideologie Sayyid Qutbs. Ihre Charta gilt heute als eine der programmatisch wichtigsten Schriften des zeitgenössischen Islamismus. In Artikel 7 heißt es zur Eigenperspektive der Organisation:
„Hamas ist eines der Glieder in der Kette des Djihad, die sich der zionistischen Invasion entgegenstellt“
und
„Denn auf irgendeinen Teil Palästinas zu verzichten bedeutet, auf einen Teil der Religion zu verzichten; Der Nationalismus der Islamischen Widerstandbewegung ist Bestandteil ihres Glaubens. [...] Für die Palästina-Frage gibt es keine andere Lösung als den Djihad."
In der 1987 von Scheich Ahmed Jassin gegründeten Organisation erscheinen Juden als die ewigen Strippenzieher und Verschwörer gegen den Islam. Ihnen werden die absurdesten Taten zugeschrieben. In Artikel 22 der Charta wird ausgeführt:
„Dieser Reichtum erlaubte es ihnen, die Kontrolle über die Weltmedien wie zum Beispiel Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Verlagshäuser, TV-Sender und weitere Dinge dieser Art zu übernehmen. Sie nutzten diesen Reichtum ebenfalls aus, um Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt anzustacheln, um ihre Interessen zur realisieren und die Früchte zu ernten. Sie standen hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen, von denen man hier und da hört.“
Und weiterhin in Artikel 28:
„Um sich einmischen und Spionageaktivitäten vornehmen zu können ist sie [Anm.: die zionistische Invasion] in großem Maß auf die Geheimorganisationen angewiesen, z.B. die Freimaurer, die Rotary Clubs, Lions und andere. All diese Geheimorganisationen, von denen einige auch offen arbeiten, agieren für die Interessen des Zionismus und wollen unter dessen Anleitung die Gesellschaften zerstören, Werte vernichten, Verantwortlichkeiten ausschalten, Tugenden ins Schwanken bringen und den Islam auslöschen. Sie steht hinter der Verbreitung von Drogen und Giften aller Art, die ihr Machtausübung und Machtausdehnung erleichtern sollen.“
Insbesondere während der zweiten Intifada ab 2000 schaffte es die Hamas mit ihrer Auffassung von der Befreiung Palästinas durch den Djihad eine Deutungshoheit im Rahmen des Konfliktes zu gewinnen. Im Gegensatz zur ersten Intifada spielte hier auch der Antisemitismus eine zentrale Rolle. Der massenhafte Mord durch Selbstmordattentäter wurde zur Waffe der Wahl. Dabei proklamierte die Hamas wiederholt die „Beendigung der jüdischen Existenz in Palästina“.
Auch im Jahre 2011 scheint der auf den Ideen Hassan al-Bannas und Sayyid Qutbs basierende djihadistische Islamismus weiter eine Rolle in der islamischen Welt zu spielen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Aufstände in den arabischen Staaten dazu führen, dieses dunkle Erbe endlich abzustreifen und pluralistische Gesellschaften zu schaffen, die sich auch gegen jede Form des Antisemitismus positionieren.
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