Was wird uns in Bezug auf Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus aus dem Jahr 2010 in Erinnerung bleiben? Die Top Ten.
Von Simone Rafael
1. In Dresden wurde im Februar erstmals der Neonaziaufmarsch zum 13. Februar erfolgreich blockiert durch Menschen, die gewaltfrei auf die Straße gingen, um den Neonazis ihren Aufzug zu verderben - ein Erfolg, der auf weiteren Demonstrationen im Laufe des Jahres leicht modifiziert wiederholt werden konnte, etwa in Berlin am 1. Mai, wo sich unter anderem Bundestagspräsident Wolfgang Thierse auf die Straße setzte, und in Leipzig am 15. Oktober.
2. Zunahme rechtsextremer Bedrohung durch Gewalt: Dafür war 2010 auch ein Jahr rechtsextremer Gewalt und Bedrohung gegenüber Menschen, die sich gegen Neonazis einsetzen – mit Schwerpunkten in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, Dortmund und Sachsen. Spezialitäten: Brandanschläge auf Imbisse von Menschen mit Migrationshintergrund, Graffitis und eingeschlagene Scheiben an alternativen Wohnprojekten, Angriffe auf Parteibüros von Politikerinnen und Politikern, die sich gegen Neonazis engagieren. Über rechtsextreme Internetseiten wurde zu etlichen dieser Aktionen aufgerufen – mit dem Abdruck der Adressen und der Aufforderung, den Benannten einen „Besuch abzustatten“ um „Argumente auszutauschen“. In Zossen wird das „Haus der Demokratie“ Opfer eines Brandanschlages.
3. Thilo Sarrazin hat mit seinem Abschaff-Buch das Gift rechtspopulistischer und islamfeindlicher Diskurse unter stetiger Betreuerung seines „Tabubrecher“-Mutes in alle Medien und die ganze Gesellschaft getragen. Hier ging die Saat aus rassistischen Verallgemeinerungen, Bedrohungsszenarien und wirtschaftsorientierter Nutzen-Bewertung von Menschen so vollends auf, dass man sich heute, ein halbes Jahr später, nicht mehr über Integration unterhalten kann, ohne dass mindestens eine halbe Stunde Sarrazins Thesen – sei es zustimmend oder ablehnend - diskutiert werden.
4. Rechtsextreme Parteien im Umbruch: Die DVU gibt auf und schließt sich Ende 2010 der NPD an. Ob die profitiert, ist fraglich. Vielen ehemaligen DVU-Mitgliedern sind die NPDler zu neonazistisch, Parteiaustritte, auch von Funktionsträgern, sind die Folge. In Berlin verliert die NPD so z.B. den Fraktionsstatus, weil ein DVU-Abgeordneter nun parteilos ist.
5. Todesopfer rechtsextremer Gewalt: Schwer tun sich offizielle Stellen auch damit, den Mord am 19-jährigen Iraker Kamal K. in Leipzig als rechtsextreme Tat (an) zu erkennen, obwohl beide Täter aus organisiertem rechtsextremen Kameradschaftsumfeld stammen. Kamal K. wurde in der Nacht zum 24. Oktober 2010 vor dem Leipziger Hauptbahnhof erstochen, mutmaßlich von Markus E. (Thüringen) mit Hilfe von Daniel K. (Leipzig, ehemals Aachen). Er soll anderen Jugendlichen zu Hilfe gekommen sein, die von E. und K. angepöbelt worden waren.
6. Die Extremismus-Klausel im neuen Bundesprogramm des Bundesfamilienministeriums macht alle Projekte, die sich für Demokratie engagieren, zu potenziellen Linksextremen, die sich gegenseitig bespitzeln sollen, wenn sie weiterhin Fördergelder beziehen möchten. Juristen betrachten die Klausel wegen unscharfer und unerfüllbarer Formulierungen als unhaltbar. Der Ausgang ist unklar.
7. Rechtspopulismus ist en vogue wie nie - zum Glück bisher ohne gute Protagonisten in Deutschland. Neu auf der Agenda: Die Pro-Partei will expandieren und ist jetzt auch in Berlin aktiv. Eben da gründet auch Ex-CDU-Mitglied Rene Stadtkewitz nach dem Vorbild des niederländischen Rechtsextremen Geert Wilders eine Partei namens "Die Freiheit". In Bremen will die rechtspopulistische Vereinigung „Bürger in Wut“ um Udo Ulfkotte bei der Bürgerschaftswahl 2011 punkten.
8. In Berlin haben dies Diskurse auch praktische Folgen: Im November und Dezember 2010 gibt es dort vier Brandanschläge auf Moscheen verschiedenster Gemeinden und Ausrichtungen – die von der Öffentlichkeit und den Medien kaum zur Kenntnis genommen werden und entsprechend auch keine Solidarität erfahren. Dies geschieht vielleicht, weil die Verhältnisse schwierig sind: Unter den angegriffenen Gemeinden sind auch solche, die selbst als demokratiefeindlich gelten.
9. Der Nazi in unserer Mitte: Unbelehrbar zeigt sich der Fußballclub BSC 99 in Laucha: Dort trainiert seit Jahren der Neonazi Lutz Battke die Jugendspieler, trägt Hitlerbärtchen und verschenkt Fahnen in Reichsflaggen-Optik – und niemand will etwas von seiner Gesinnung bemerkt haben. Als nach einem Übergriff auf einen jüdischen Jungen die ZEIT über die Verhältnisse in Laucha berichtet, sieht sich der Club durch den öffentlichen Druck gezwungen, sich von Battke zu distanzieren. Die NPD nominiert Battke medienwirksam für die Bürgermeisterwahl in Laucha – er erhält 24 Prozent der Stimmen. Das Training mit den Jugendlichen hat Battke längst wieder aufgenommen. Der DFB rügt das. Ausgang offen.
10. Einen Erfolg vor Gericht erringt das Anti-Nazi-Satireprojekt „Storch Heinar“ gegen die klagefreudige und bei Rechtsextremen beliebte Bekleidungsmarke „Thor Steinar“. Die hatte Verwechslungsgefahr gesehen und auf Unterlassung geklagt – was das Gericht abwies.
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