Titelbild der Broschüre "Berliner Zustände".
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"Berliner Zustände" im Jahr 2017 - Unaufgeklärte Anschlagsserie, AfD im Senat und Rassismus im Alltag

Wie erlebt die demokratische Stadtgesellschaft den gesellschaftlichen Rechtsruck? Wie gehen antirassistische Projekte mit Bedrohungen und Anfeindungen durch Neonazis und die AfD um? In der neuen Ausgabe der „Berliner Zustände“ beschreiben Berliner Initiativen und Projekte aus zivilgesellschaftlicher Perspektive aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen in der Stadt.

Der Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wird im elften Jahr gemeinsam vom antifaschistischen pressearchiv und bildungszentrum berlin e.V. (apabiz) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) herausgegeben.

Im bunten, weltoffenen und vielfältigen Berlin gibt es leider auch Platz für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Abwertung und Gewalt. Antisemitismus ist ein bleibende Grundabwertung aus verschiedensten Ecken, die entschlossene demokratische Antworten braucht. Rassismus gehört für People of Color zum Alltag  - auch, aber nicht nur in der Begegnung mit Polizei und Staat. Doch es gibt auch Fortschritte in der Diskussion zu verzeichnen. Klassische Neonazis waren in Berlin nie wirklich willkommen, dafür agieren Sie umso gewalttätiger und attackieren sein Jahren demokratische Menschen in Berlin-Neukölln - und das nicht nur in ihrem beruflichen, sondern auch im privaten Umfeld. Eine schockierende Erfahrung, die aber auch viel Soldarität ausgelöst hat, wie die "Mobile Beratung gegen Rechtsextremismu Berlin" schreibt. So berichtet die mbr zu ihrer Arbeit: "Die Arbeit der MBR zielt darauf ab, die Perspektive der Betroffenen zu stärken, ihnen Handlungssicherheit zurückzugeben und sie in der Fortsetzung ihres Engagements zu ermutigen. So organisierte die MBR für einen Teil der Angegriffenen ein Treffen, auf dem sie sich untereinander vernetzen, ihre Erfahrungen austauschen und Fragen stellen konnten. Dieser gemeinsame Austausch in einem geschützten Raum stärkte die Betroffenen. Sie waren mit ihrer Situation nicht mehr allein und entwickelten selbst Ideen für konkretes solidarisches Handeln. Eine Person, die im Wohnumfeld gezielt bedroht wurde, erstellte ein Informationsschreiben für die Nachbar_innen in verschiedenen Sprachen und stellte es auch anderen Interessierten zur Verfügung. Viele Angegriffene hatten Fragen zur Anzeigenstellung bei der Polizei. Unter Hinzuziehung von „ReachOut“ als Opferberatungsstelle sowie juristischer Expertise konnte den Betroffenen weitere professionelle Unterstützung angeboten werden." Demonstrationen und Austausch führten auch zur Spendensmamlung, mit der Schäden durch Brandanschläge gemindert werden konnten. Gegenseitige Unterstützung und solidarisches Zusammenstehen sind der zentrale Erfolgsfaktor gegen rechtsextreme Angriffe. Bündnisse wie die "Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus" und das "Bündnis Neukölln" bleiben aktiv im Bezirk und lassen sich nicht einschüchtern. Trotzdem trifft es alle Angegriffenen hart, dass es weiter keine Ermittlungserfolge der Polizei gibt - bis heute. 

„Die vielen Projekte, die in dieser Stadt für Demokratie und Menschenrechte eintreten, brauchen konkrete Unterstützung und breite Solidarität, wenn sie zunehmend für ihre Arbeit diffamiert und bedroht werden“, betont MBR-Projektleiterin Bianca Klose. Angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks der vergangenen Jahre ist die gemeinsame Arbeit an dieser Publikation notwendiger denn je, um denen, die sich dagegen engagieren, eine Stimme zu geben“, sagt Frank Metzger vom apabiz.

Das apabiz steuert eine Analyse der AfD-Arbeit im Berliner Senat bei. Autor Frank Metzger stellt fest: "Es hat sich aber auch so bereits etwas geändert: der öffentliche Diskurs hat sich maßgeblich durch die rassistische Asyl- und Islamfeindschaft und den Antifeminismus der AfD – inklusive der wahnwitzigen Formen des rassistischen Scheinfeminismus verschärft. Aggressive Diskriminierungen und Anfeindungen sind omnipräsent und wirken geradezu selbstverständlich. Umso notwendiger wird es sein, dieser Normalisierung zu widerstehen, dem Versuch der rechten Diskursverschiebung weiterhin zu widersprechen und dagegen zu argumentieren. Es bleibt umso wichtiger, dem andere Konzepte und eine andere Praxis entgegenzustellen und sich solidarisch zu zeigen mit den von Anfeindungen Betroffenen."

Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) kritisiert in der Publikation den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus und benennt in aller Schärfe, wie sehr schwarze Menschen von der polizeilichen Maßnahme des Racial Profiling und von rassistischen Alltagsbegriffen betroffen sind. Bafta Sarbo und Tahir Della schreiben: "Wie Racial Profiling und rassistische Polizeiarbeit konkret aussehen kann, haben wir erst vor einigen Wochen mitbekommen, als ein Kollege in Kreuzberg von fremden Männern rassistisch beleidigt und körperlich angegriffen wurde. Als dieser zu seinem eigenen Schutz die Polizei rief, hörte sich einer der zwei Polizisten lediglich die andere Seite an und fing an auf den Betroffenen einzuschlagen. Anschließend legten sie ihm Handschellen an, fuhren ihn aus der Stadt heraus und setzen ihn aus ohne ihm mitzuteilen, wo er sich befindet. Das ist zwar einer der extremeren Fälle, und trotzdem passieren sie oft genug. Dass Betroffene von rassistischer Gewalt auf diese Weise selbst kriminalisiert werden, ist keine Ausnahme. Ihnen liegt ein kolonialrassistisches Bild zugrunde, dass Schwarze Menschen nicht leiden können – so funktioniert Dehumanisierung."

Diese Erfahrung machen auch Familienmitglieder und Freunde von rassistischen Mordopfern. Mitglieder der Familien Arslan und Yılmaz als Angehörige der Mordopfer der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 sowie eine Vertreterin der Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş fordern in einem Interview im "Schattenbericht 2017", die Perspektiven der Opfer und Angehörigen in den Mittelpunkt zu stellen, um ein angemessenes Erinnern und Gedenken zu ermöglichen. Ibrahim Arslan, Familienangehöriger der Opfer des Brandanschlags von Mölln 1992, berichtet über sein Engagment: "Ich habe in meiner Jugend festgestellt, dass es eine ganz große Bildungslücke an Schulen gibt, nämlich dass die Perspektive der Betroffenen nicht repräsentiert wird. Daher habe ich mir vorgenommen, mit Schülern und Heranwachsenden zu sprechen, inspiriert auch dadurch, was Holocaust-Überlebende ja schon sehr lang machen, nämlich Zeitzeugengespräche. Um zu zeigen, dass sich bislang vor allem mit den Tätern beschäftigt wird und dass auch wir als Gesellschaft uns viel zu oft mit Tätern identifizieren und weniger mit den Betroffenen. Ich arbeite oft mit dem Satz von Tolstoi: ‚Wenn jemand Schmerzen fühlt, dann ist er lebendig, wenn jemand die Schmerzen anderer fühlt, dann ist er ein Mensch.‘ Wir können etwas zur Gesellschaft beitragen, indem wir diese Schmerzen fühlen, um zu verhindern, dass sich diese Taten wiederholen. Das geht nur, wenn wir mit Heranwachsenden sprechen, denn die werden irgendwann dieses Land regieren, in Justizgebäuden sitzen oder bei der Polizei arbeiten. Und sie werden diese Gesellschaft verändern. Mein Ziel ist es, die Opferperspektive in den Vordergrund zu stellen."

Parallel zur Printausgabe erscheint online ein aktueller Artikel der Berliner Opferberatungstelle ReachOut. Darin wird neben der Analyse der Berliner Zahlen zu rechter und rassistischer Gewalt 2017 der Fall Hanaa Mallak geschildert, die mit ihrer Familie aus Syrien geflohen war. Nachdem ihre Suizid-Gefährdung von den zuständigen Behörden nicht ernst genommen wurde, sprang sie letztlich aus einer Notunterkunft in den Tod.

 

 

Die Printausgabe ist beim apabiz und der MBR erhältlich. Als PDF-Datei steht der Schattenbericht hier zur Verfügung.

Alle Artikel (auch der früheren Ausgaben) sind online unter www.schattenbericht.de zu finden.

 

 

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