Be Berlin, don’t be Rom: Neunzig Roma „überfordern Berlin“

Die Odyssee der rumänischen Roma-Familien in Berlin hat ein Ende – wochenlang wurden sie von einem Ort zum nächsten getrieben, die Behörden verweigerten humanitäre Unterstützung, die Berichterstattung in den Medien nahm Ausmaße einer rassistischen Hetzkampagne an. Schließlich wurde ihnen für 250 Euro ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland abgekauft.

Von Regina Rahe

An einem Dienstag in den frühen Morgenstunden entschloss sich die Polizei zum Einsatz: Schon in den Tagen zuvor hatte sie mehrere Familien im Visier, die in einem Park übernachteten und kam stündlich mit Taschenlampen zur Kontrolle. In Absprache mit dem Jugendamt drohte die Polizei den Eltern an, ihre Kinder in Heimen unterzubringen, falls sie keine angemessene Unterkunft vorweisen können. Passanten kamen den Familien zur Hilfe und organisierten eine Notfallunterkunft, damit die Kinder bei ihren Eltern bleiben können. In den folgenden Wochen wurde dieses Ereignis zum Politikum.

Die Familien, die am 19. Mai 2009 im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg in eine Polizeirazzia gerieten, passen in verschiedene Kategorien: Sie sind mit Touristenvisa eingereist, doch mit Touristen, die im Hotel übernachten und Sehenswürdigkeiten besuchen, haben sie wenig gemeinsam. Eher ähnelt ihre Situation derjenigen von Flüchtlingen, die ihr Land aus Armut und politischer Diskriminierung verlassen haben, um in einem anderen Land Asyl suchen. Als EU-Bürger können sie diese Möglichkeit aber nicht für sich in Anspruch nehmen. Sie sind rumänische Staatsbürger, doch als Roma gehören sie einer marginalisierten Gruppierung an, von der sich die rumänische Mehrheitsgesellschaft scharf abgrenzt. Roma werden darüber hinaus in Deutschland und anderen Ländern mit dem Konstrukt der „Zigeuner“ belegt, das eine jahrhundertealte Tradition der Verfolgung und Ausgrenzung hat.

Antiziganismus und Antisemitismus

Antiziganismus ist eine spezifische Variante des Rassismus, die viel mit Antisemitismus gemeinsam hat. Während „Zigeuner“ im Mittelalter als eine Art soziale Unterschicht der Ungläubigen religiös motiviert verfolgt und für vogelfrei erklärt wurden, „verwissenschaftlichten“ sich die Vorurteile im 18. und 19. Jahrhundert zu einem biologischen Rassismus. „Zigeunern“ wurden genetisch vererbte negative Attribute zugeschrieben – sie seien „arbeitsscheu“, „asozial“, „heimatlos“, „kriminell“. Zugleich entstand ein romantisierendes Stereotyp der „leidenschaftlichen“, „musikalischen“, „ungebundenen“ „Zigeuner“ – Projektionen, die viel über die Ängste, Neurosen und Sehnsüchten der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, über ihre Arbeitsmoral, ihr Geschlechterbild, den Anpassungsdruck verraten.

„In gewisser Weise könnte man vielleicht sagen: Der „Jude“ ist der „Zigeuner“ der Oberschicht, und der „Zigeuner“ ist der „Jude“ der Unterschicht.“, so fasst Autorin Roswitha Scholz die Parallelen zwischen Antiziganismus und Antisemitismus in dem kürzlich erschienenen Sammelband „Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments“ zusammen. Während „die Juden“ als die unverschämten, machtgierigen Nutznießer der gesellschaftlichen Modernisierung dargestellt werden, vermitteln antiziganistische Stereotype einen Appell an Selbstdisziplin: Die „Zigeuner“ repräsentieren die latente Drohung, bei Leistungsverweigerung in „Asozialität“ und soziales Elend abzugleiten. Gemeinsam ist „Zigeunern“ und Juden die physische Verfolgung, die in der Massenvernichtung während des Nationalsozialismus gipfelte. Doch der Völkermord an den Sinti und Roma wurde erst 1982 offiziell anerkannt. Bis heute haben süd- und osteuropäische Roma keine Entschädigungszahlungen bekommen und werden von der Polizei mit diskriminierenden Sonderkürzeln wie „MEM“ („Mobile Ethnische Minderheit“) erfasst.

Medien gegen die „Bettel-Rumänen“

In den Bildern, die die Medien anlässlich der im Park campierenden Familien verwenden, lassen sich seit Jahrhunderten erhaltene antiziganistische Vorurteile wiederfinden. Die erliner Boulevardzeitung „B.Z.“ schrieb über „Bettel-Rumänen“, deren Kinder „mit ihren kleinen verdreckten Händen Berliner auf der Straße um Geld bitten“ (19. Mai 2009). „BILD“ bezeichnete sie als „lästige Autoscheiben-Wischer“, die „tagelang in Dreck und Müll hausten“ (20. Mai 2009). Im Tonfall sind die Beschreibungen der Boulevardpresse anschlussfähig an den nationalsozialistischen „Asozialendiskurs“. Aber auch die linksliberale „tageszeitung“ berichtete von Roma, die im Bethanien „hausen“, kulturell „fremd“ sind und „Berlin überfordern“ (29.5.2009). Brigitte Fehrle sprach in der „Berliner Zeitung“ dem nationalistischen Durchschnittsdeutschen aus dem Herzen: „Wohnung und Arbeit? Das wollen in Berlin viele andere auch. Wird denen etwa geholfen? Macht man um die so viel Aufhebens? Würden wir auf obdachlose arbeitssuchende Deutsche genauso reagieren? Natürlich nicht. Es ist das Fremde, das der Volksgruppe der Roma innewohnt, das ihnen diese besondere Aufmerksamkeit beschert. Das Fremde, das eine Mischung aus Abwehr, Mitleid und schlechtem Gewissen auslöst. Gefühle und Empfindungen, die berechtigt sind, aber aus denen nichts folgen kann. Nichts folgen sollte.“ (4.6.2009) Fehrle spielt damit eine sozial benachteiligte Gruppe gegen eine andere aus. Mit der behaupteten Knappheit von Ressourcen wie Wohnung oder Arbeit, der Unterstellung einer absoluten und unveränderlichen kulturellen Fremdheit der Roma, der latenten Angst vor „Überfremdung“ sieht sie sich völlig im Recht – wenn auch mit schlechtem Gewissen – den Deutschen den Vorzug zu geben und den Roma jede Unterstützung zu verweigern.

Ignoranz von Behörden, Rausschmiss aus der Kirche

Ähnlich sahen dies wohl auch die Berliner Behörden. Trotz der Notlage von Familien, die mit Kindern, Neugeborenen, schwangeren Frauen und Kranken ungeschützt vor Witterung und rassistischen Übergriffen im Freien schlafen mussten, gelang es der Stadt nicht, eine geeignete Notfallunterkunft zu organisieren. Angebote im Beisein der Presse wurden revidiert, sobald die Öffentlichkeit verschwunden war. Bei einem „Runden Tisch“ im Rathaus Kreuzberg am 25. Mai 2009 verkündete Wolfgang Klein vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), in Berlin gebe es etwa hundert freie Schlafplätze verteilt auf verschiedene Obdachlosenwohnungen und -heime. Am nächsten Tag zog die Stadt das Angebot, die Familien dort unterzubringen, mit der Begründung zurück, es bestünde dort Platzmangel. Auch ein Versuch der Familien, in einer Kirche vorübergehend Unterkunft zu finden, scheiterte. Pfarrer Olaf Pollossek der St. Marien Liebfrauen Gemeinde sicherte den Familien bei einer Pressekonferenz am 29. Mai 2009 zu, ihnen über Pfingsten Obdach zu gewähren. Nur wenige Stunden später setzte er die Familien auf die Straße. Aufgebrachte Gemeindemitglieder beschimpften sie dabei als Ungläubige, die sie in ihrer Kirche nicht haben wollten, eine rumänischsprachige Klosterschwester erklärte einer Romni, sie möge keine „Zigeuner“.

Kurzfristig konnten die Familien zwar in verschiedenen linken Hausprojekten unterkommen, doch sobald sich die Schlafstätte - wie etwa im Hausprojekt „New Yorck“ im Bethanien, Berlin-Kreuzberg, geschehen - auf ungenutzte städtische Räumlichkeiten ausweitete, wurde Strafantrag gestellt und mit Räumung gedroht. Gegen die Unterstützungsgruppe, ein Bündnis aus Menschenrechtsaktivisten, Flüchtlingsorganisationen und Bewohnerinnen linker Hausprojekte, wurde in der Presse Stimmung gemacht. „Wir glauben nicht, dass wir immer nur alles richtig machen, aber immerhin versuchen wir es“, so erklärt ein Unterstützer. Die Reaktion der Behörden sieht er als „totale Ignoranz“ gegenüber einem humanitären Notfall, aber auch als ein Beispiel der rassistischen Diskriminierung von Roma, die „ein europaweites politisches Problem“ darstelle.

Europaweite Diskriminierung von Roma

In den meisten europäischen Ländern sind Roma laut der „Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ (ECRI) Diskriminierungen ausgesetzt. In Rumänien leben 88 Prozent der Roma unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer wieder kommt es zu rassistischen Polizeiübergriffen, die Roma sind auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt benachteiligt und haben mangelnden Zugang zum Bildungssystem. In Italien kam es im Herbst 2007 und im Frühjahr 2008 immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen, Roma-Siedlungen in Rom, Neapel und anderen Städten wurden polizeilich geräumt und zerstört, eine Massenabschiebung von 20000 Roma angekündigt und eine polizeiliche Erfassung aller Sinti und Roma per digitalem Fingerabdruck geplant. In Tschechien hat die Partei „Narodni Strana“ vor kurzem in einem Wahlwerbespot zur Europawahl eine „Endlösung der Zigeunerfrage“ gefordert. Die schlimmste Katastrophe für die Roma seit dem Holocaust ereignete sich zwischen 1999 und 2004 im Kosovo, wo während des Bürgerkriegs 100.000 Roma bei „ethnischen Säuberungen“ ermordet oder aus dem Land vertrieben wurden. Aktuell sollen Roma, die als Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Deutschland kamen, wieder dorthin abgeschoben werden. Vor diesem Hintergrund fordert die EU-Kommission, dass Roma einen besonderen Schutz genießen müssen und ihnen unter anderem bei der Suche nach einer menschenwürdigen Unterkunft unabhängig von ihrer Nationalität in allen Mitgliedsstaaten besondere Unterstützung zukommen muss. In Berlin wurde diese EU-Richtlinie ignoriert.

„Entgrüßungsgeld“ für die Abreise aus Deutschland

Hartnäckig betonten die Berliner Behörden in den letzten Wochen, dass es ein Unterbringungsangebot für die Familien gebe: Das „Ausreisezentrum Motardstraße“ in Berlin-Spandau ist ein Lager am Rande der Stadt, von Stacheldrahtzaun umgeben, dessen Schließung wegen menschenunwürdigen Lebensbedingungen bereits beschlossen ist. Beim „Runden Tisch“ im Rathaus Kreuzberg am 25. Mai 2009 lehnten die betroffenen Familien es zunächst ab, dort hinzuziehen und „wie in einem Gefängnis oder Konzentrationslager“ leben zu müssen. Mangels Alternativen begaben sich die meisten Familien dennoch ab dem 29. Mai 2009 in das Lager in der Motardstraße. Bei strömendem Regen wurden die Familien am 11. Juni 2009 auch aus dieser Unterkunft hinausgeworfen. Unter der Bedingung, sich schriftlich zur Abreise aus Deutschland bereit zu erklären, zahlte das Bezirksamt Berlin-Mitte 250 Euro „Entgrüßungsgeld“ pro Erwachsenem und 150 Euro pro Kind an insgesamt 110 Personen.

Inwieweit die Familien selbst ihre Situation in einen politischen Kontext sehen, ob sich die Einzelnen als Rumänen identifizieren wollen, als Roma, als Flüchtlinge, als Gruppe, deren Vorfahren NS-Opfer waren oder anderweitig, ist unklar. Sie sind eine heterogene Gruppe, konkret hatten sie das gemeinsame Interesse, eine Unterkunft zu finden, damit ihnen ihre Kinder nicht entzogen werden und waren dabei denselben Schikanen ausgesetzt. Manche von ihnen haben von Verfolgung und Armut in Rumänien erzählt und betont, dass sie dorthin nicht mehr zurück wollen. Zumindest ein Teil wäre gerne in Deutschland geblieben, um Arbeit zu finden und den Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Das ist jetzt erstmal nicht mehr möglich.

Zum Weiterlesen:

Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Unrast-Verlag, Münster 2009

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